Sibylle Grimbert – Der Letzte seiner Art

Man sollte sich ja von Blurbs nicht abschrecken lassen, obwohl es wirklich ganz scheußliche Blurbs gibt oder natürlich Blurbs von Leuten wie Daniel Kehlmann, deren Blurbs man nicht ernst nehmen kann, weil auf jedem zweiten Buch ein Zitat von Daniel Kehlmann steht, in dem dieser in Superlativen angibt, warum dieses das beste aller Bücher ist. Und dann gibt es Blurbs von Leuten, die ich gar nicht mehr so gerne lese, wie Michel Houellebecq, der im Grunde seit Jahrzehnten mehr oder weniger dasselbe Buch schreibt, was seine Fans freilich nicht stört. Über „Der Letzte seiner Art“ sagt Houellebecq jedenfalls, dass ihn in diesem Roman zum ersten Mal ein Charakter, der nicht durch Sprache kommunizieren könne und der nicht menschlich sei, berührt habe. Und: Da hat er recht, der schlechtgelaunte Mann. Das ist wirklich einfach ein sehr lieber, berührender Roman.

In „Der Letzte seiner Art“ erzählt die französische Schriftstellerin Sibylle Grimbert (übersetzt von Sabine Schwenk) von Auguste, genannt Gus, einem jungen französischen Zoologen, der 1835 während einer Reise nach Island nicht nur einem Gemetzel an den damals schon stark dezimierten Riesenalken beiwohnt, sondern auch ein verletztes, aber überlebendes Exemplar dieser Vogelart aus dem Wasser fischt, um es zu Forschungszwecken an seinen Arbeitgeber in Frankreich zu schicken. Sobald er den Riesenalk jedoch in seine Wohnung aufgenommen hat, entsteht zwischen ihm und dem Vogel Vertrauen und schließlich sogar eine Freundschaft. Gus beschließt, den Riesenalk zu behalten, gibt ihm den Namen Prosp, die beiden wachsen immer enger zusammen, bis diese Verbindung nach einem fehlgeschlagenen Auswilderungerungsversuch mehr und mehr symbiotisch wird und zu Gus‘ Selbstaufgabe führt.

Gus‘ Blick auf die Natur und den Menschen wandelt sich im Laufe des Romans: Sibylle Grimbert zeichnet das Innenleben eines Menschen nach, der im Rahmen der Denkmuster seiner Zeit große Probleme damit hat, zu verstehen, was passiert, als die Riesenalken aussterben. Gus kann sich das Aussterben von Arten nur mit Hilfe der zu seiner Zeit bereits weitgehend fragwürdig gewordenen Katastrophenhypothese, der zufolge das Aussterben von Arten auf eine Katastrophe zurückzuführen ist, oder als gezielte und sinnvolle Ausrottung von schädlichen Tierarten durch den Menschen erklären. Dass der Mensch die eigentliche Katastrophe sein könnte, der völlig ungerecht eine Tierart, die niemandem schadet, ausrottet, kann Gus gedanklich nicht fassen:

„Wie konnte das sein? Die Wale und Robben lebten doch noch. Und anderswo, in Afrika, gab es große, dicke, wahrscheinlich dumme Rhinozerosse, aus denen man feine Ragouts hätte machen können, und diese Tiere stolzierten dort ungestört umher. In Australien gab es ein geradezu unglaubliches Tier, mit dem sich die Natur einen Schabernack erlaubt hatte, einen Biber mit Entenschnabel, der auch noch Eier legte, obwohl er ein Säugetier war. Dieses absurde, nicht einmal schöne Tier lebte, während Prosps Artgenossen, diese friedlichen, lustigen, im Wasser so anmutigen Tiere ausgestorben waren. Wo war da die Gerechtigkeit und wo erst die Harmonie dieser Welt? Als Gus auf dem Rückweg zum Boot die Stadt hinter sich ließ, begannen sich seine Arme dem Himmel entgegenzustrecken, und Passanten blieben stehen, lachten, schauten ihm nach.“ (S. 216)

Das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade noch gängige Weltbild einer sinnvoll geordneten Schöpfung mit dem Menschen als sie verwaltender Krone zerbricht vor Gus‘ Augen und er verzweifelt daran. Und indem man „Der Letzte seiner Art“ liest, kann man einen Blick in den Kopf eines Menschen des 19. Jahrhunderts werfen.

Im Riesenalk Prosp hat Sibylle Grimbert ein Symbol geschaffen für das, was Artensterben bedeutet, was die Welt und damit auch der Mensch verliert, wenn letzterer Tierarten ausrottet. „Der Letzte seiner Art“ erzählt damit im Medium des historischen Romans vom massenhaften Artensterben unserer Gegenwart. Dass der Roman konventionell erzählt ist und durchaus ganz gezielt auch den Lesenden emotional anzurühren versucht, ist auch diesem Ziel geschuldet: Aufmerksamkeit und Empathie zu wecken für eine bedrohte Tierwelt, die der Mensch zerstört.

Abgesehen davon, dass der Eisele-Verlag ein sehr hübsches Buch daraus gemacht hat: „Der Letzte seiner Art“ ist ein wirklich lesenswerter, schöner, liebevoller Roman, dem man manche kleineren Redundanzen und Längen in Gus‘ Hadern mit seinem Weltbild gern verzeiht, denn der Riesenalk Prosp ist eine so wunderbar liebeswerte Vogelfigur, dass man am Ende des Romans ernsthaft traurig ist, in einer Welt ohne Riesenalken leben zu müssen.

[Foto von Sigurdur Fjalar Jonsson auf Unsplash]


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