Jan Kuhlbrodt – Krüppelpassion oder Vom Gehen

Manche Krankheiten sind literarisch im Speziellen oder künstlerisch im Allgemeinen gar nicht so selten bearbeitet worden: Über Krebs etwa gibt es zahlreiche Romane und Essays, so viele, dass es sogar Texte über diese Texte gibt, etwa Susan Sontags „Krankheit als Metapher“. Andere Krankheiten bilden dagegen über viele Jahrzehnte, sogar Jahrhunderte eine Art Hintergrundrauschen zahlreicher Werke, werden aber eher selten das zentrale Thema eines Romans, etwa Tuberkulose.

Und wieder andere Krankheiten sind nur vereinzelt Gegenstand literarischer Auseinandersetzung, vielleicht auch, weil die Zahl der Betroffenen unter den Schreibenden geringer oder die Schamgrenze höher ist: Chronische Niereninsuffizienz etwa, wie in Tabea Hertzogs „Wenn man den Himmel umdreht, ist er ein Meer“, oder Syphilis in Alphonse Daudets eindrucksvollem „Im Land der Schmerzen“.

Über das Kranksein ist also im Grunde viel geschrieben worden – und doch werden diese Texte aus der öffentlichen Wahrnehmung ähnlich verdrängt wie das Kranksein selbst. Dabei kommt vielleicht gerade bei diesem Thema Schreiben immer wieder in seiner existentiellsten Art zu sich selbst: Als Versuch, das eigene Schicksal – und hinter jedem Buch über Krankheit steht ja in der Regel ein Leben, dem dieses Schicksal zugestoßen ist – zu erzählen und damit eben auch erzählbar zu machen. Jeder Text über ein Schicksal ist auch ein Ringen mit diesem. Jeder Text über das Kranksein ist zutiefst persönlich und das Schreiben über diese Bücher ist eigentlich ein Unding, aber was will ich machen, hier bin ich nun mal.

Das Ringen mit der Krankheit, die Wut über das Schicksal und über die unterlassene Hilfeleistung durch eine Gesellschaft, die Krankheit verdrängt, zeigt sich auch in Jan Kuhlbrodts „Krüppelpassion oder Vom Gehen“, einem Essayprosagedichttextdings, in dem sich Kuhlbrodt mit MS, der Krankheit, an der er erkrankt ist, auseinandersetzt.

Es ist ein formal eigenwilliger Text, lyrische, erzählende und theoretische Passagen wechseln einander ab, es werden längere Zitate aus der Bibel, aus philosophischen und anderen Werken eingebunden und spiegeln den Versuch, das, was dem Ich geschieht und geschehen ist, gedanklich wie künstlerisch zu fassen. Dass die Textteile am Ende keine erzählerische Linie ergeben, der Erkrankung zwar einen zeitlichen Verlauf, aber eben keinen inneren Zusammenhang verleihen, ist so konsequent wie schlüssig: Das, was dem lyrisch-erzählerischen Ich da widerfährt, lässt sich nicht narrativ bändigen, schon gar nicht lässt sich ein Sinn einschreiben – und das geschähe ja unweigerlich, wenn man versuchen würde, eine Krankheit in eine klassisch zusammenhängende Erzählung zu fassen. Alles zerfällt in Gedanken, Momente, Assoziationen (ein bisschen ähnlich ist das den, wenn auch emotional wie dichterisch sehr viel stärker um unmittelbaren Ausdruck bemühten, aber eben auch formal vielleicht gerade deshalb eigenwilligen „Gedichten der Angst“ von Mira Mann, die unmittelbar nach einer MS-Diagnose entstanden sind). Einzelne Tipp- und Kommafehler in „Krüppelpassion“ lassen einen beim Lesen stolpern und sind damit in kleiner formaler Geniestreich, weil man lesend ja auch ins Straucheln kommen soll.

Am wenigsten geht man also vielleicht mit einer Gattungsbezeichnung für diesen Text fehl, wenn man den Titel ernst nimmt und ihn als Passion liest – auch die Passion Christi, in ihrer biblischen Fassung wie dann auch in unterschiedlichen musikalischen und dichterischen Bearbeitung, verwebt ja verschiedene Gattungen ineinander, greift auf Zitate aus dem Alten Testament zurück, versucht vorgegebene Deutungsmuster für das, was geschieht, anzupassen oder zu verwerfen. Freilich bleiben – jenseits von Glaubensüberzeugungen rund um Jesus Christus, die meines Wissens nach um Jan Kuhlbrodt nicht existieren – aber die Unterschiede, dass das Ich in „Krüppelpassion“ an den eigenen Tod denken, ihn aber natürlich nicht vorausnehmen und also als schon geschehen erzählen kann, und dass eine Einbettung der eigenen Leidensgeschichte in einen Glaubenszusammenhang gerade nicht gelingt. „Krüppelpassion“ ist auch eine wütende Anfrage im Sinne der Theodizee-Frage: Wie kann ein guter Gott zulassen, dass das Ich leidet? Entsprechend sind die alttestamentarischen Zitate der Weisheitsliteratur entnommen, die sich immer wieder mit der Frage nach dem Tun-Ergehen-Zusammenhang auseinandersetzt, also mit der Frage, ob und wie das eigene Verhalten und das eigene Schicksal zusammenhängen. Während etwa das Buch der Sprichwörter an diesem Tun-Ergehen-Zusammenhang festhängt, verwirft Kohelet diesen Zusammenhang und ruft angesichts unausweichlicher und unbegreifbarer Zufälligkeiten im Leben zur inneren Gelassenheit auf. Nicht umsonst ist „Krüppelpassion“ also ein Zitat aus Kohelet vorangestellt, Koh 3,19.

Innere Gelassenheit angesichts eines unbegreiflichen Schicksals zu predigen und zu empfehlen, wie es das Buch Kohelet tut, ist das eine – sie zu erlangen ist das andere. Das Ich, das in „Krüppelpassion“ um Worte und um Verschriftlichung ringt, ringt auch um seine Gelassenheit und verliert sie nur allzu verständlicher- und richtigerweise oft: Etwa, wenn es von den Barrieren, die im Jahr 2023 immer noch in der Öffentlichkeit für Menschen mit chronischen Krankheiten bestehen, schreibt. Bahnfahren, an Geburtstagsfeiern von Freunden teilnehmen, schnell und einfach eine öffentliche Toilette erreichen, am Literaturinstitut Leipzig unterrichten, all das ist dem Ich hier nur schwer oder gar nicht möglich – gerade auch der Literaturbetrieb, der doch an unterschiedlichen Stellen immer wieder so deutlich über Diversität nachdenkt, verdrängt chronisch Kranke nach wie vor aus seiner Mitte, wenn er es ihnen nicht ermöglicht, die Räume literarischer Öffentlichkeit zu betreten.

Einem Ich, das von der literarischen wie nicht-literarischen Öffentlichkeit in die eigenen vier Wände hinein verdrängt wird, bleibt also praktisch nichts anderes übrig als der Rückzug in Bücher.

„Die Welt wurde mir zu Papier, das, was ich sah und sehe, wird mehr und mehr zu Worten, zu Schrift.“ (S. 27)

„Mit der Zeit aber wurden die Bücher mir Wand. Wand vor der Wand. Ununterschiedbare Elemente. Mauerwerk.“ (S. 29)

Der Trost also für das Ich, das davon erzählt, in seiner Jugend in der DDR davon geträumt zu haben, Kosmonaut zu werden, in entfernte Galaxien zu reisen. Schon dieser Traum wurde dem jugendlichen Ich zum Gefängnis, führte der Weg zum Kosmonauten in der DDR doch nur über eine freiwillige Verpflichtung für die Offizierslaufbahn, die man dann, wenn man sich einmal, wie unbedacht auch immer, verpflichtet hatte, auch einschlagen musste: Man saß in der Falle. Und genauso sind es vielleicht auch die Bücher, diese Reise-Auswege, die beides sind: Weg und Sackgasse, Rückzugsort und Gefängnis, Welt und Wand.

Es ist, wie es im echten Leben nun mal ist, und die größte Stärke von „Krüppelpassion“ besteht darin, so ehrlich und ungeschönt und nicht-glättend und vor allem: so menschlich über das echte Leben zu schreiben, so schlimm es ist: Nichts ist einfach, nichts ist ohne Preis und der Preis ist meist zu hoch. Es ist ein sprachlich, formal wie inhaltlich starkes und berührendes Buch, dem man wirklich nur so viel Aufmerksamkeit und so viele Leser wie möglich wünschen kann.

(Foto von charlesdeluvio auf Unsplash)


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