Ein Klavier, ein Klavier! Deborah Levy – Augustblau; J. M. Coetzee – Der Pole

Künstlerfiguren haben eine lange literaturgeschichtliche Tradition, seit Jahrhunderten dienen sie als Fläche für künstlerische (Selbst)Reflexion und Projektion, für das Ausloten von Vor- und Nachteilen sowie Möglichkeiten einer künstlerischen Existenz außerhalb gesellschaftlicher Konventionen. Oft genug enden insbesondere in der deutschsprachigen Literatur mit ihrer Tradition des Bildungsromans die Versuche junger Figuren, eine künstlerische Existenz zu finden, in der sie sich authentisch und sinnerfüllt selbst erforschen und ausdrücken können, im Scheitern, in der Rückkehr in die bürgerliche Existenz oder in der Mittellosigkeit.

Dass eine künstlerische Existenz Möglichkeiten künstlerischen Selbstausdrucks ermögliche, diese Illusion wurde der Protagonistin Elsa M. Anderson aus dem Roman „Augustblau“ der britischen Schriftstellerin Deborah Levy schon früh genommen. Ihr Klavierlehrer, der gleichzeitig ihr Adoptivvater ist, hat ihr schon früh die Flausen ausgetrieben, komponieren, ihre eigene musikalische Stimme finden zu wollen. Sie sollte Interpretin werden – und eine weltberühmte Interpretin ist sie geworden. Mit Anfang 30 sitzt sie dann jedoch während der Corona-Pandemie in Griechenland auf dem Scherbenhaufen ihrer Existenz: Während eines Konzerts in Wien, bei dem sie Rachmaninoffs 2. Klavierkonzert spielen sollte, ist sie nach wenigen Minuten von der Bühne gerannt. Ihre eigenen Töne sind aus ihr herausgebrochen, sie konnte sich dem fremden Werk und den Ordern des Dirigenten nicht länger unterordnen und spürt nun, dass sie nicht mehr in das Korsett der Interpretin zurückfinden wird.

Ihr Leben lang hat sie sich selbst und ihre eigene Identität untergeordnet, doch jetzt bricht die Suche nach der eigenen Identität so drängend aus ihr heraus, dass sie alle Regeln übertritt: Sie färbt sich die Haare blau, bringt ihre wertvollen und millionenschwer versicherten Hände bei der Jagd nach Seeigeln in Gefahr, gibt privaten Klavierunterricht, statt sich um eine Professur an einem Konservatorium zu bemühen und beschäftigt sich mit Isadora Duncan, einer Künstlerin, die ihrerseits gegen künstlerische Konventionen verstoßen hat, um den modernen Tanz zu begründen. Und: Elsa Anderson beginnt zu komponieren.

Hinter all dem steht auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit: Der Frage, wer ihre Eltern waren, hat sie sich nie gestellt – nun, angesichts der zunehmenden Hinfälligkeit ihres Adoptivvaters und nach wiederholten Begegnungen mit einer mysteriösen Doppelgängerin, wird diese Frage immer wichtiger. Immer wieder wird der Text unterbrochen durch Variationen der Sätze: „Vielleicht bin ich das.“ Aber vielleicht eben auch nicht. Es ist die Suche nach Identität einer weiblichen Künstlerfigur in einer sie privat wie beruflich umgebenden männerdominierten Welt.

Deborah Levy hat ihren Roman rund um die weltberühmte Pianistin Elsa M. Anderson kunstvoll anspielungsreich und mehrdeutig konzipiert. Praktisch kein Ort und Gegenstand scheint hier ohne Verweisungscharakter zu sein: In Wien, der Stadt der Psychoanalyse, bricht das Unbewusste der Protagonistin durch, das Blau ihrer Haare steht in Verbindung nicht nur zum Meer, sondern auch zu allen romantischen und musikalischen Assoziationen, die diese Farbe aufruft. Der Titel „Augustblau“ spielt an auf das Gemälde von Henry Scott Tuke, immer wieder zieht die Protagonistin oder ziehen andere Figuren des Romans Parallelen zwischen ihr und Rachmaninoff (mit dem sie auch einzelne Reisestationen teilt).

Das ist alles sehr kunstvoll komponiert und von Marion Hertle gekonnt aus dem Englischen übersetzt, der aki Verlag hat ein sehr schönes Buch daraus gemacht, der Roman hat auch insbesondere in den späteren Auseinandersetzungen mit dem hinfälligen Adoptivvater wirklich sehr berührende Momente und wer gerne Symbole, Ebenen und Metaphern sucht und auseinanderdividiert, wird hier eine Menge Spaß haben können. Mir ist die Hauptfigur zu wenig plastisch und zu wenige lebendig, mehr innerlich doch meist eher stagnierendes Symbol als glaubwürdige Künstlerin in der Selbstkrise, die die Figur ja lange Zeiträume selbst kaum zu berühren scheint, so dass mich dieser Roman und die darin erzählte Geschichte nicht recht erreicht haben. Aber lest doch mal rein, vielleicht geht es euch da anders, und kauft den Roman vor allem, schon allein weil er so ein schönes Buch ist.

Auf eine ganz andere Weise dient ein Künstler in J. M. Coetzees „Der Pole“, übersetzt von Reinhild Böhnke, einer weiblichen Hauptfigur als Spiegel der Selbsterkundung: Beatriz, eine verheiratete Spanierin aus der besseren Gesellschaft, lernt im Rahmen eines Konzerts, das sie mitorganisiert, den berühmten polnischen Witold Walczykiewicz kennen. Der Starpianist, bekannt vor allem für seine eigenwillige, kühle Chopin-Interpretation, verliebt sich in Beatriz, die diese Gefühle für den deutlich älteren Mann nicht erwidert. Und doch kommt sie von ihm nicht los, fühlt sich geschmeichelt und abgestoßen, erkundet ihre eigenen Wünsche und sich selbst, in dem sich mal auf den Pianisten einlässt und ihn mal zurückweist. Er dagegen übersteigert die Geliebte und sich selbst grotesk, sieht sich selbst als Dante und in ihr Dantes Beatrice, beginnt, schlechte Gedichte zu schreiben.

Schon oft hat Coetzee Geschichten erzählt, in denen Männer einen sozialen Abstieg durchleben, der ausgelöst oder begleitet wird von der Liebe zu einer unerreichbaren, deutlich jüngeren Frau. „Der Pole“ unterscheidet sich nun vor allem dadurch von etwa dem berühmten Roman „Schande“, als hier nun der Abstieg eines erfolgreichen Mannes aus der Ferne, aus der Perspektive der begehrten, jüngeren Frau, die wenig Gefühle für den Mann hat, erzählt wird. Vom sozialen Abstieg, von der völligen Vereinsamung des polnischen Pianisten erfährt man hier lesend also nur indirekt und eigentlich auch erst, als es zu spät ist.

Beatriz ist in ihrem Umgang mit dem älteren Mann keineswegs egoistisch oder empathielos, sie spielt immer mit offenen Karten, nimmt Rücksicht, soweit es ihr möglich ist, ohne sich selbst zu erniedrigen, behält den Mann, mit dem sie einige Tage geteilt hat, in Erinnerung. Aber von Anfang an liegt zu viel zwischen beiden, als dass sie sich so nahe kommen könnten, wie der Pianist das möchte – auch deswegen, weil er Beatriz nicht als den Menschen zu sehen bereit zu sein scheint, der Beatriz nun einmal ist.

Coetzee erzählt hier auf sehr viel ruhigere, zurückhaltendere Weise als in seinen früheren Romanen von dem Zusammenbruch einer Existenz. Er erzählt aber auch davon, wie schwer es ist, das Innere eines Menschen in Worte zu fassen. Das wird nicht nur in den etwas kryptischen ersten Abschnitten des Romans deutlich, in dem eine Erzählinstanz von den eigenen Problemen damit, das Wesen der weiblichen und der männlichen Hauptfigur erfassen zu können, berichtet, sondern das wird auch in den nahezu grotesk misslungenen Gedichten Walczykiewiczs und in den Briefen von Beatriz deutlich, in denen diese mehr schlecht als recht Worte für ihre Beziehung zu dem Pianisten findet – und das auch weiß.

Die merkwürdige Reserviertheit dieses Romans gegenüber dem, was erzählt wird, die Distanz, die eine emotionale Einfühlung in die Tragödie, die sich hier eigentlich abspielt, nahezu unmöglich macht, ist ebenfalls Ausdruck der Schwierigkeit, Figuren bzw. Menschen mit ihren Antrieben und Gefühlen in ihrem innersten zu erfassen und zu Papier zu bringen. Und das geschieht um den Preis, dass der Roman hinter der Wucht früherer Romane zurückbleibt.

Dennoch: Es ist ein Roman, der zeitgemäß ist dadurch, dass er die Geschichte vom scheiternden alten weißen Mann und seiner Liebe zur jüngeren Frau aus der Perspektive der Frau erzählt. Und es ist ein Roman, der sich in einer großen Offenheit und Ehrlichkeit dem Problem stellt, dass sich ein Mensch mit seinen Wünschen und Antrieben nie so einfach mit Worten erfassen lässt. Insofern ist es ein sehr schöner Roman. Aber keiner, den man gelesen haben muss – dazu bleibt das Erzählte doch zu weit weg, zu unterkühlt, wie die Chopin-Interpretation Walczykiewiczs im Roman selbst. Das ist künstlerisch bemerkenswert konsequent, aber dringt zumindest zu mir nicht so recht durch.

[Beitragsbild von Ebuen Clemente Jr auf unsplash.com]


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