Katerina Poladjan – Zukunftsmusik

„Gradually
We became aware
Of a hum in the room
An electrical hum in the room
It went mmmmmm

We followed it from
Corner to corner
We pressed our ears
Against the walls
We crossed diagonals
And put our hands on the floor
It went mmmmmm

Sometimes it was
A murmur
Sometimes it was
A pulse
Sometimes it seemed
To disappear
But then with a quarter-turn
Of the head
It would roll around the sofa
A nimbus humming cloud
Mmmmmm“

In „Changing opinions“, dem ersten Song von Philip Glass‘ 1986 veröffentlichten „Songs from Liquid Days“ (den Text zu diesem Song hat Paul Simon geschrieben, eingesungen wurde er von Bernard Fowler) ist plötzlich ein rätselhaftes Summen zu hören, dessen Ursprung trotz Suchens nicht klar auszumachen ist. „Songs from Liquid Days“ ist vermutlich eines der bekanntesten Werke von Philip Glass, es steht am Übergang hin zu den eher symphonischen Stücken des Komponisten, verbindet bewusst die repetitiven Klangebenen, die schon für Glass‘ minimalistische Werke typisch waren, mit Pop. „Songs from Liquid Days“ ist einer der vielen Versuche Philip Glass‘, klassische Musik neu zu gestalten, es ist, wenn man so will, Zukunftsmusik. Und im ersten Lied dieses Zyklus geht es darum, auf ein neues, rätselhaftes Geräusch zu hören, es geht um das Zuhören.

„Songs from Liquid Days“ ist etwas mehr als ein Jahr nach dem 11. März 1985 erschienen, also etwa ein Jahr nach dem Tag, von dem Katerina Poladjans Roman „Zukunftsmusik“ erzählt. Und auch hier geht es um das Zuhören, um das Sprechen und um „Liquid Days“, bzw. eher um einen einzigen flüssigen Tag, um einen Tag, an dem die Zeit in vielen Strudeln und Strömungen, in unterschiedlichen Tempi, verfließt.

So steht Janka, eine junge Frau, die für eine Glühbirnenfabrik arbeitet und mit ihrer Tochter, Mutter und Großmutter in einem gemeinsamen Zimmer in einer Kommunalka lebt, am Anfang des Romans in einer Arbeitspause draußen und raucht eine Zigarette, während unten, in der Dunkelheit für sie nicht sichtbar, aber ihr doch wohlbekannt „teerschwarz und träge der Strom alles mit sich [nahm], auch die Zeit“ (S. 9). Im Strom dieser Zeit stehen nun Janka, ihre Familie, Freunde und die anderen Bewohner der Kommunalka als Pars pro toto für die Sowjetunion, die sich an diesem 11.3.1985, von dem erzählt wird, noch unmerklich, aber doch entscheidend verändert: Es ist der Tag, an dem Michail Gorbatschow zum neuen Generalsekretär der KPdSU gewählt worden ist, am Tag zuvor ist der vorherige Generalsekretär Konstantin Tschernenko verstorben.

Und so fließt nun dieser Zeitstrom und nimmt alle Figuren des Romans mit sich, in unterschiedlichen Tempi, unterschiedlichen Zukünften entgegen. Matwej Alexandrowitsch etwa, der Zimmernachbar von Janka und ihrer Familie in der Kommunalka, ein eher gezwungenermaßen überzeugter Kommunist, bewahrt das, was er an der Vergangenheit für bewahrenswert hält, in kleinen Kästchen für die Zukunft auf, seien das getrocknete Pflanzen oder schöne, aber unbrauchbare Stifte. Maria Nikolajewna, Jankas Mutter, steht in ähnlicher Weise zwischen den Zeiten, arbeitet sie doch in einem Museum, an einem Ort mit anderer Zeitrechnung:

„All diese Objekte sind stehen gebliebene Gedanken, die Zeit läuft hier anders.“ (S. 90)

Vielleicht auch deswegen scheinen beide, Matwej und Maria, einer gemeinsamen Zukunft entgegengehen zu können. Und letztlich scheint die ganze Sowjetunion an diesem 11.3.1985 ein Museum geworden zu sein:

„Matwej und Kroschka standen vor der Statue Wladimir Iljitsch Lenins, der mit gestrecktem Zeigefinger die Richtung des Fortschritts wies, aber Matwej schien es, als deute er heute auf einen fernen Punkt in der Vergangenheit. All das ist lange her. Aber wenn du meinst, in der langen Zeit wäre viel passiert, so irrst du dich. Es ist, als wäre die Zeit stehengeblieben. Stillstand in allen Richtungen. Bis heute.“ (S. 128)

Eben: Bis heute. Denn an diesem Tag hört die Zeit auf, stillzustehen, sie beginnt, anders zu fließen, es bilden sich Strömungen und Strudel. Und entsprechend haben andere Figuren auch eine andere Zeitrechnung: Janka etwa treibt für sich im Fluss der Zeit, Pawel, in den sie verliebt ist, wird in einem wahren Strudel der Beschleunigung davongerissen.

Und diese einander überlappenden Zeitebenen sind auch in der Kommunalka selbst sichtbar: Die ehemals prächtige und großzügige Wohnung aus der Gründerzeit ist nun heruntergekommen, vollgehängt mit Wäsche der unterschiedlichen Parteien, die hier in realsozialistischer Knappheit zusammenleben müssen. Aus diesem realsozialistischen System, in dem jeder Zentimeter Tischgröße von den Mitbewohnern argwöhnisch kritisiert wird, hilft nur die Flucht – die hier in einer der vielen surrealen Szenen ein Professor antritt, indem er sich durch die Decke der Wohnung in den Himmel katapultiert. Der Himmel, der durch das Loch in der Decke zu sehen ist, die Freiheit, wird von den im System lebenden Figuren schnell unsichtbar gemacht: Janka schließt schnell die Zimmertür, als sie ihn sieht, später versucht jemand, einen Teppich über das Lochen zu legen – vergebens: Gorbatschow ist da, der Durchbruch durch den eisernen Vorhand nicht mehr zu kitten.

Eingeleitet wird dieser Anfang mit einem Ende: Immer wieder taucht im Roman Chopins Trauermarsch, der 3. Satz der zweiten Klaviersonate b-Moll op. 35, auf. Am Anfang ist das Stück von den Figuren immer wieder im Radio zu hören, noch ist unklar, wer genau verstorben ist, es ist jedoch allen klar, dass eine wichtige Person gestorben sein muss. Es bleibt erst bei Andeutungen, Vermutungen, die keiner recht aussprechen will.

Ohnehin sprechen die Figuren, vielleicht auch entsprechend der unterschiedlichen Zeitebenen, in denen sie leben, in Andeutungen, sie reden aneinander vorbei, verschweigen Wesentliches und verstehen einander dann manchmal doch. Der im Radio zu hörende Trauermarsch ist etwa Anlass dieses Dialogs zwischen Warwara Michailowna, Jankas Großmutter, und Matwej Alexandrowitsch:

„Sagen Sie, verehrter Matwej Alexandrowitsch, Warwara Michailowna sprach so leise, dass er sich zu ihr beugen musste, ich nehme an, dass Sie in Kenntnis sind, was uns erwartet?

Uns? Sie meinen die Bürger unseres Landes?

Sehr richtig, die Bürger unseres Landes. Oder von mir aus auch nur unsere kleine Schicksalsgemeinschaft hier. Was erwartet uns?

Nun, es ehrt mich, und es schmeichelt mir, dass Sie bei mir ein höheres Wissen vermuten. Was wünschen Sie uns denn, Warwara Michailowna?

Warwawa Michailowna sah Matwej Alexandrowitsch an und lächelte.“ (S. 37)

Und daraufhin wechselt das Thema. Anlass dieses Sprechens, insbesondere mit dem scheinbar so überzeugten Matwej, ist sicherlich auch die Angst davor, etwas Falsches zu sagen oder denunziert zu werden. „Es war überhaupt besser, nicht so viel zu sprechen“ (S. 97) ist eine Devise, die vielen in der Sowjetunion bekannt gewesen sein dürfte – nicht zuletzt ist sie auch Matwej selbst bekannt, der für das ehrliche Aussprechen seiner Gefühle schon einmal einen sehr hohen Preis zahlen musste. Geplaudert dagegen wird die ganze Zeit. Und manchmal werden ganz unvermittelt zwischen all dem Aneinandervorbeigerede und Geplaudere ganz wesentliche Dinge ausgesprochen, die dann aber doch nicht ernst genommen werden, weil ja niemand wesentliche Ding ausspricht – noch viel häufiger aber werden sie gleich ganz verschwiegen.

Schließlich ist es aber irgendwann nicht mehr notwendig, weitere Vermutungen über den Anlass für Chopins „Trauermarsch“ anzustellen – eine offizielle Nachricht bestätigt, dass der Generalsekretär verstorben ist. „Eine Geschichte ging zu Ende, eine andere begann.“ (S. 118). Die Zeit wird eine andere – und am Ende wird Chopins Trauermarsch zu einem Punksong, gesungen von Andrej während eines Küchenkonzerts. Hier verschwimmt nun alles „Zukunft, Ende, Anfang“ (S. 156), der Trauermarsch ist das Gegenteil zum Zeigefinger der Lenin-Statue: Lenin weist in eine Zukunft, die in der Vergangenheit liegt – der Trauermarsch verweist auf eine Vergangenheit, mit der die Zukunft beginnt.

Der Umbruch führt für die Kommunalka zu ganz handfestem Chaos. In einer weiteren der vielen surrealen, symbolhaften Szenen des Romans soll nun plötzlich das Haus, in dem die Wohnung der Kommunalka liegt, umgebaut oder abgerissen werden, „so genau weiß das niemand“ (S. 183); eben wie die Sowjetunion. Alle rennen nach draußen, haben Angst vor einem Schneesturm – und finden vielleicht doch ihr Glück?

Um das herauszufinden, muss man diesen wirklich sehr schönen Roman lesen. Auch wenn man wie ich kaum russische Literatur gelesen hat und deswegen vermutlich höchstens die Hälfte der Anspielungen und Symbole versteht, liest man „Zukunftsmusik“ doch mit großer Freude: Hier schreibt eine Autorin in kleinen, ganz verdichteten Szenen über Figuren, die liebenswert und nuanciert gezeichnet sind, spielt klug mit Zeitebenen und Widersprüchen. Es ist ein ganz großer Roman auf erstaunlich wenig Seiten, eben die Sowjetunion in wenigen Zimmern einer Kommunalka.

Und bevor die Bewohner dieser Wohnung alle schnell Hab und Gut zusammenpacken, weil das Haus abgerissen oder umgebaut wird, ist ein merkwürdiges Geräusch zu hören – Janka und Pawel hören zu, können aber keine Quelle ausmachen…

„Maybe it’s the hum
Of changing opinion“

[Beitragsbild von Aaron Burden auf unsplash.com]


4 Gedanken zu “Katerina Poladjan – Zukunftsmusik

  1. Habe auch vor kurzem über denselben Text geschrieben und hatte eine ganz andere Perspektive darauf. Mir scheint eine große Stärke der Autorin zu sein, dass sie mit „Zukunftsmusik“ einen Text mit vielen Leerstellen vorgelegt hat, der großen Interpretationsspielraum lässt.

  2. Ich teile die Leseeindrücke. Vorzüglicher Hinweis auf Philipp Glass – ich selbst habe die „Musik“ in „Zukunftsmusik“ einfach nicht in die Lektüre einbezogen. Es lohnt sich ohnehin, diesen Roman mehrmals zu lesen. Die Stimmung, die abgetönten Farben, diese Robustheit der Figuren haben mich sehr überzeugt.

  3. Gerade eben ausgelesen und dann gleich hier noch einmal geguckt. Obwohl ich mich in russischer Literatur so überhaupt nicht auskenne uns so gut wie nichts aus der Ecke gelesen habe und dadurch sicher vieles an mir vorbeiging, hat mich die Sprache und die Atmosphäre eingefangen. Ein sehr schöner Roman, danke mal wieder fürs Aufmerksam machen. LG, Bri

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