Vicki Baum – Der Weihnachtskarpfen

„Was aber ist es mit dem Leben überhaupt? Welche Bewandtnis hat es mit diesem Da-Sein, mit diesen Eingesperrtsein in eine Form, mit diesem Zwang, zu handeln und zu leiden, was ist dieses Gehäuse, in dem ein edler und unberührbarer Kern gequält wird?“ (S. 94),

fragt der Erzähler in der Erzählung „Der Weg“ den Lesenden. Aber diese Fragen stehen nicht nur hinter dieser einen Erzählung, um diese Frage kreisen alle vier Erzählungen in dem Band „Der Weihnachtskarpfen“ von Vicki Baum.

Drei dieser Erzählungen stammen aus den 1920er Jahren und zeigen typische Züge der Literatur der Neuen Sachlichkeit: In „Hunger“ folgt man dem Schicksal der armen, alleinstehenden Klavierlehrerin Gabriele Gabrilowsky, der es an allem fehlt, doch vor allem an Glanz und an Liebe – die Protagonistin dieser Geschichte könnte eine ältere Tante von Irmgard Keuns kunstseidenem Mädchen sein. Beide Frauen hätten gerne ein anderes Leben, als sie es haben, und fliehen. Die Protagonistin aus Baums Erzählung flieht in eine Fantasiewelt, Keuns Heldin nach Berlin. Beide werden kein anderes, kein glänzendes Leben finden. Wenig besser ergeht es der Hauptfigur in Baums Erzählung „Der Weg“, der Hausfrau Frau Zienkann, die ihre Familie in finanziell beschränkten Verhältnissen versorgen muss und an der Enge, der Lieblosigkeit ihrer Verhältnisse krank wird. Und ebenso scheitert der einzig männliche Protagonist in diesem Erzählband, der 17-jährige Schusterlehrling Jape Flunt in „Jape im Warenhaus“.

Alle drei Erzählungen aus den 1920ern zeigen also das bedrückende, trostlose Leben der kleinen Leute, der Mittellosen in dieser Zeit. Vicki Baum setzt mit all diesen Erzählungen fort, was Arthur Schnitzler um die Jahrhundertwende getan hat: Sie zeichnet psychologisch genau die geistige Zerstörung nach, die Armut und Einsamkeit Menschen antut. Alle drei Figuren haben nicht viel vom Leben gewollt: Im Grunde wollte Gabriele Gabrilowsky nur geliebt werden, Frau Zienkann wollte nur einen Schrank, Jape Flunt wollte eine Krawatte. Aber schon das war zu viel, da allen dreien das Unglück widerfährt, dass sie durch diese Wünsche kurz sehen, wie das Leben sein könnte, wenn sie nur das Geld hätten, wenn sie nur andere Leben leben würden. An diesem Kontrast zwischen ihren Wünschen und ihrer Realität gehen sie alle zu Grunde.

Ein wenig aus dieser Reihe fällt die vierte und titelgebende Erzählung in diesem Band, „Der Weihnachtskarpfen“, die deutlich später, in den 1940er Jahren entstanden ist. Sie erzählt ebenfalls von beengten Verhältnissen, allerdings in einer reichen Familie, die unter der Not des Krieges leidet wie alle Menschen im Österreich dieser Zeit. Wenigstens den traditionellen Weihnachtskarpfen will Tante Mali der Familie ermöglichen, dafür gibt sie alles – ohne Erfolg. Dieser Erzählung geht es aber weniger darum, die psychischen Folgen von Armut aufzuzeigen, wie es in den drei anderen, älteren Erzählungen der Fall ist – „Der Weihnachtskarpfen“ ist eher ein kritischer Kommentar zum Kriegsgeschehen.

An diesem Erzählband also kann man sehen, wie unrecht der von Autorinnen geschriebenen Literatur in der Literaturgeschichte getan worden ist: Vicki Baums Erzählungen stehen, entgegen ihrem falschen Ruf, lediglich banale Unterhaltungsliteratur geschrieben zu haben, in nichts der großen Literatur ihrer Zeit nach. Sie sind Kommentare auf Zeit, Gesellschaft und Politik, psychologisch genau beobachtete Miniaturen, die Einblick in das Leben der Menschen dieser Zeit geben. Sie stellen die ins Rampenlicht, die so leicht übersehen werden: Alleinstehende alte Frauen, Mütter, Mittellose. Das hier ist große Literatur, die – wie bereits gesagt – direkt neben Arthur Schnitzler stehen sollte, dessen „Therese“ in Frau Zienkann etwa eine jüngere Schwester hat.

In der Erzählung „Der Weg“ beantwortet der Erzähler die eingangs zitierten Fragen an den Lesenden mit dem deprimierenden Urteil: „Leben – das ist ein Hindernis, zu sein. Sterben, das heißt einen Ausweg finden.“ (S. 94) Davon erzählen die ersten drei Erzählungen dieses Bandes. Sie tun es, dem pessimistischen Ergebnis zum Trotz, ohne pessimistisch zu machen, sondern sie machen wacher für das ganz gewöhnliche Elend des Alltags und sind, nebenbei erwähnt, schlichtweg hervorragend geschrieben.

Es gibt keinen Grund, diese Erzählungen nicht in einen schulischen und universitären Kanon aufzunehmen, jeder sollte sie gelesen haben, das ist große Literatur, die bereits kanonisierten Werken in absolut nichts nachsteht und ich werfe mit so apodiktischen Urteilen nicht so oft um mich. Wenn ihr vor Weihnachten noch ein Buch kaufen und lesen wollt, lasst es ruhig dieses sein – es ist gerade glücklicherweise von KiWi neu als Taschenbuch aufgelegt worden. Es ist absurd, dass diese Autorin so lange so unterschätzt und ignoriert worden ist.

[Beitragsbild von Ebuen Clemente Jr auf unsplash.com]


4 Gedanken zu “Vicki Baum – Der Weihnachtskarpfen

  1. Ich bin zuletzt in der Buchhandlung über die Autorin, deren Bücher dort hervorgehoben wurden, gestolpert und hatte mich schon gefragt, was es mit der Neuauflage auf sich hat. Obwohl ich Keun gelesen und gemocht habe, war mir Baum bislang kein Begriff. Danke für die Vorstellung und Empfehlung und vor allem für das Plädoyer, den (Schul-)Kanon etwas breiter und bunter zu denken.

  2. Danke für den tollen Tipp! Obwohl schon ein Freund im Studium von Vicki Baum geschwärmt (er ist in einem Seminar zu Autorinnen der Neuen Sachlichkeit auf sie gestoßen) und mir wiederholt empfohlen hat, etwas von ihr zu lesen, hat es nun doch einige Jahre und diesen Eintrag gebraucht, um ein Buch von ihr in die Hand zu nehmen. Kurzes Fazit: Es hat sich gelohnt, v.a. die Erzählung „Der Weg“. Nach der Lektüre wollte ich mehr über die Autorin erfahren und habe mich über ihr Leben informiert (in der Kurzbiografie aus Ihrem Reclam-Band Dichterinnen & Denkerinnen, auch sehr spannend) – beeindruckend, was diese Frau alles erlebt und gemacht hat (v.a. wie sie sich beruflich mehrmals neu erfunden hat)! In Bezug auf den „Weg“ kam mir rückblickend noch der Gedanke, dass darin mglw. mehr Ironie steckt, als ich dachte (zumindest wurde die Ironie in „Menschen im Hotel“ ihrer Aussage nach nicht erkannt)… Ein Grund mehr, die Erzählungen irgendwann noch einmal zu lesen.

    1. Das freut mich total! Und ja, darüber, wie ironisch das gemeint ist, habe ich auch nachgedacht – habe mich aber dann doch einfach dafür entschieden, Mitleid mit der armen Hausfrau zu haben… Danke für deinen Kommentar!

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