Ilona Jerger – Lorenz

Als ich klein war, hatte ich das „Gänse-Kinder-Buch“ mit einem Vorwort von Konrad Lorenz und wollte, wenn ich mal groß bin, Verhaltensforscherin werden, weil ich dachte, das bedeutet primär, viele Haustiere haben zu dürfen.

Wie ich jetzt in dem Tatsachenroman „Lorenz“ von Ilona Jerger erfahren durfte, lag ich damit gar nicht so falsch, zumindest wenn man eben im letzten Jahrhundert Verhaltensforschung begründet hat. „Lorenz“ erzählt auf zwei Ebenen: Einmal geht es in der Haupthandlung um das Leben von Konrad Lorenz und dann in einer Nebenhandlung um das Leben einer in der Gegenwart lebenden, namenlosen Ich-Erzählerin, die, in ihrer Jugend auch begeistert durch Konrad Lorenz, im Gegensatz zu mir tatsächlich Biologin geworden ist und nun insbesondere das Zugverhalten von Vögeln erforscht. Das Hauptgewicht des Romans, der, gäbe es die Passagen der Ich-Erzählerin nicht, stilistisch genauso gut als erzählendes Sachbuch, wie es in den letzten Jahren ja durchaus mit gutem Grund populär geworden ist (etwa im Stile der Sachbücher von Peter Neumann), hätte vermarktet werden können, liegt also auf der Biografie von, na, wer hätte es gedacht, „Lorenz“.

Und es ist eine der bemerkenswerten Leistungen dieses Buches, dass es eben nicht nur in souveräner Art und Weise stilistisch und formal Roman und Sachbuch verschränkt, sondern dass im Grunde durch das Leben von Konrad Lorenz auch Wissenschaftsgeschichte und Mentalitätsgeschichte vom Vorabend des Ersten Weltkriegs über die Zeit des Nationalsozialismus bis in die Sozialen Bewegungen der 1980er Jahre erzählt wird. Immer wieder werden Seitenblicke auf andere wichtige Figuren der Zeit, beispielsweise auf Sigmund Freud, Adolf Hitler, Hannah Arendt, Martin Heidegger, Willy Brandt geworfen und so werden auch die wesentlichen Nachkriegsschriften von Konrad Lorenz, insbesondere über seine Triebtheorie zur Erklärung aggressiven Verhaltens, in den zeitgeschichtlichen Kontext gerückt, in den sie gehören. Ganz mühelos und ohne, dass wesentliche Vorkenntnisse über Konrad Lorenz oder die Zeit notwendig wären, lernt man so nicht nur einen der Begründer der Verhaltensforschung mit seinen wichtigsten Forschungsergebnissen, sondern auch die Zeit, in der er gelebt und gewirkt hat, kennen.

Das zweite wesentliche Verdienst dieses Romans besteht darin, Konrad Lorenz in seiner Zeit zu verorten und durchaus gerade in seinem eugenischen und nationalsozialistischen Denken kritisch zu betrachten, ohne sich in eine unterkomplex überlegene Position zu setzen. Da wird viel mit Figuren, die Lorenz‘ Denken zurecht kritisch hinterfragen, gearbeitet, viel mit Verweisen auf historische Kontexte und Folgen seines Denkens, mit historischen Fakten und Richtigstellungen, aber stilistisch wird eben auch stark mit Ironie gearbeitet. Konrad Lorenz ist hier kein strahlender Nobelpreisgewinner-Wissenschaftler-Held, er ist auch kein netter Onkel mit ein paar lieben Tierchen, sondern er ist durchaus ein Typ, der mal einfach kauzig ist, oft aber auch wirklich richtig falsch liegt, wissentlich verfälscht und manipuliert, dabei aber eben einfach auch sehr menschlich und dennoch eben auch der Begründer einer wissenschaftlichen Disziplin ist. Über einen frühen Vortrag Lorenz‘ in Bayreuth, mit dem er sich bei den Nationalsozialisten auch aus eigener Überzeugung anbiedert, indem er die Geschichte der berühmten Graugans Martina, die er großgezogen hat, verbiegt, heißt es etwa:

„Hier in Bayreuth beginnt Martinas wissenschaftliche Karriere. In seinem Vortrag stellt Lorenz sie im Gegensatz zu den fetten Hausgänsen als instinktsicheren Idealtyp der wilden Graugans dar. Ausgerechnet Martina! Die Gans, die einen Mann zur Mutter hat und in der elektrisch geheizten Wiege neben dessen Bett geschlafen hat. Lorenz kennt keine Hemmungen.“ (S. 77)

Der Roman ist, wie hier deutlich wird, durchaus sehr klar in seinem Urteil über Lorenz‘ wissenschaftliche Methodik und sein bis zu seinem Tod fortgeführtes sozialdarwinistisches Denken. Dennoch gelingt es dem Roman, auch andere Seiten Lorenz‘ zu erzählen – gewiss war das kein einfacher Schreibprozess.

Gelohnt hat er sich aber allemal, denn entstanden ist so ein interessanter, angemessen komplexer, humorvoller Roman, der einem viel über Konrad Lorenz und dessen Lebenszeit, die ja nahezu das ganze 20. Jahrhundert umfasst, erzählt, ohne dass dabei die Komplexität der Darstellung oder die Detailfülle das Lesen beschweren würde.

Nebenbei war ich beim Lesen dann auch ganz froh, keine Verhaltensforscherin geworden zu sein, die einen Haufen Vögel als Haustiere hält, denn der Roman hält sich dahingehend vornehm zurück, aber man kann doch insgesamt ahnen, wie viel Vogelkot wohl im Hause Lorenz, wo ja allerhand Federvieh gelebt hat, ausgeschieden worden sein dürfte. Als nächstes würde mich daher ein Roman aus der Perspektive von der Person im Haushalt der Familie Lorenz interessieren, die da die ganze Zeit putzen musste. Hoffentlich schreibt darüber mal jemand.

Eine viel bessere Besprechung findet ihr auf dem tollen Blog „Zeichen & Zeiten.“

[Beitragsbild von Clare Smallwood auf Unsplash]


6 Gedanken zu “Ilona Jerger – Lorenz

  1. Es freut mich sehr, dass Dir der Roman ebenfalls so gut gefallen hat und vor allem Du ihn so wunderbar besprichst. Ich reiche das Lob sehr gern zurück. Viele Grüße und vielen Dank für die Verlinkung

  2. Was für eine schön zu lesende und dabei wieder so fundierte Besprechung. Danke dafür und Dir ein weiter so lesereiches und uns damit bereicherndes Jahr, ich hoffe doch sehr, dass Du dann auch Zeit und Lust findest, zu besprechen. LG Bri

  3. Das Buch möchte ich unbedingt auch bald lesen. Ilona Jergers letzter Roman „Und Marx stand still in Darwins Garten“ hat mir sehr gut gefallen.

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