Jenifer Becker – Zeiten der Langeweile

Seit Jahren warnen und warnen und warnen sie – Whistleblower, Tech-Konzern-Aussteiger, Datenschützer, Psychologen. Wer das Internet nutzt, weiß das in der Regel alles: Daten werden gesammelt, ausgespäht, verkauft, Algorithmen steuern User, der User ist das Produkt von Social Media, Social Media-Konsum erhöht die Gefahr, Angststörungen oder Depressionen zu entwickeln usw. usw. All das wissen Userinnen und User – und ignorieren es. Ein bisschen digital detox hier, ein bisschen Amazon-Boykott da, aber im Großen und Ganzen macht man mit – auch, weil die digitale und die analoge Welt inzwischen so verwoben sind, dass eine Einschränkung digitaler Aktivitäten auch Einschränkungen in der analogen Welt bedeuten.

Das erlebt auch Mila, die Protagonistin aus Jenifer Beckers Debütroman „Zeiten der Langeweile“. Allerdings sind es auch bei ihr nicht so sehr die Warnungen von Datenschützern und Whistleblowern, die sie dazu bewegen, sich aus dem Internet zurückzuziehen, sondern es ist eine etwas anders gelagerte Angst: Die davor, gecancelt zu werden. Angetrieben von dieser Angst, einem Shitstorm ausgesetzt zu sein, löscht Mila erst all ihre Social Media-Accounts – und steigert sich davon ausgehend immer mehr in ihr Löschprojekt hinein: Alle Spuren, die virtuell von ihr zu finden sind, müssen entfernt, auf gar keinen Fall dürfen neue hinterlassen werden und schließlich wird aus der Angst, psychisch etwa durch Canceln durch das Internet Schaden zu nehmen zu einer körperlichen Angst vor Strahlung.

In dem Maße, in dem Milas Angst zunimmt und sie sich also zurückzieht, leidet auch ihr Sozialleben: Sie verliert nicht nur viele Kontakte, die sie vorwiegend online gepflegt hat, es wird auch zunehmend schwer, zu einem kleinen Kreis an engen Freunden Kontakt zu halten, wenn man an keinen Aktivitäten teilnehmen kann, für die Onlineregistrierungen oder ähnliches notwendig sind.

Der Roman hat durchaus eine thesenhafte Seite, die besonders dann durchbricht, wenn etwa Fragen der richtigen Motivation für einen Internetausstieg diskutiert werden und man beim Lesen doch merkt, dass dieser Dialog mit dieser Figur, die sonst nie wieder vorkommt, nur dazu da ist, gegensätzliche Positionen zu Wort kommen zu lassen. Das kann einen beim Lesen ein wenig stören, ebenso wie die doch sehr ausgebürstete Sprache. Belohnt wird man aber davon, dass hier doch wirklich klug und in einer eher ungewöhnlichen Weise über das Leben mit und ohne Internet nachgedacht wird. Auf jeden Fall ist dies ein Roman, der einen nachdenken lässt und, wie man so schön sagt, den Finger in viele Wunden legt.

Denn einfach macht es der Roman sich und den Lesenden durchaus nicht, und das nicht nur, weil die Ich-Erzählerin eher wenig Raum für Identifikation und Sympathie lässt, was aber eben durchaus auch eine mutige Entscheidung ist. Die Ich-Erzählerin macht es Lesenden auch deswegen nicht einfach, weil sie unzuverlässig ist: Ihr Vater litt unter psychischen Erkrankungen, der Bruder leidet unter schweren Sozialängsten und ist Impfgegner und eben auch ihr eigenes Verhalten weist zunehmend zwanghafte, paranoide Züge auf, die von Anfang an der Ausgangspunkt ihres Handelns sind: Ständig denkt sie, dass es um sie geht, dass Leute über sie reden, Leute sie fotografieren – dabei ist sie den meisten vermutlich ziemlich egal.

„Wenn mein Bruder eine Disposition für Psychosen hatte, dann konnte ich die gleiche haben – mein Vater war aus diesem Grund suizidal geworden, wieso sollte ich nicht von einem Moment auf den nächsten an einen Ort abdriften, zu dem niemand Zugang hatte außer mir?“ (S. 229)

Man weiß also nicht, ob man der Wahrnehmung, so, wie sie hier erzählt wird, trauen sollte – und es ist interessant, zu beobachten, wie man selbst lesend auf diese zunehmend zwanghafte Wahrnehmung der Welt reagiert. In diesem Erzählen von den zwanghaften Zügen, die Internet-Ausstieg entwickeln kann, durch eine unzuverlässige Erzählerin ist Beckers „Zeiten der Langeweile“ interessanterweise auf einer ganz ähnlichen Spur wie Thea Mengeler in ihrem Roman „Connect“, auch wenn dieser ganz anders davon erzählt. Geht man davon aus, dass Radikalisierungsprozesse heute vor allem auch über Soziale Medien vonstattengehen, so ist es spannend, wie sowohl Mengeler als auch Becker in ihren Romanen von offline-Radikalisierungsprozessen erzählen.

Diese Radikalisierung führt im Falle von Mila zu exakt dem Gegenteil von allem, was sie erreichen wollte. Statt echte, tiefe Freundschaften offline zu pflegen, verliert sie ihre beste Freundin vor lauter Nabelschau zunehmend aus den Augen, ihre schlimmsten Ängste holen sie schlussendlich ein und statt Selbstfindung und Ich-Werdung ohne digitale Beeinflussung verliert sie sich völlig: Wollte sich Mila davon befreien, durch das Internet gesteuert zu werden, so wird sie zunehmend von ihrer Angst gesteuert:

„Totale Entfremdung anstelle von heroischer Selbstfindung.“ (S. 176)

Mila hat durchaus Momente, wo sie ahnt, dass sie auf dem Holzweg sein könnte – dennoch gelingt es ihr nicht, ihren Weg zu verändern. Und das wohl auch deswegen, weil sie keinen Mittelweg findet: Man kann entweder all seine Daten preisgeben oder wahnsinnig werden im Versuch, wirklich alle Daten für sich zu behalten. Das scheint das Ergebnis des Experiments in Beckers „Zeiten der Langeweile“ zu sein – und ähnlich ist auch das Ergebnis in Mengelers „Connect“.

Wenn stimmt, was Armin Nassehi in „Muster“ über das Internet schreibt, nämlich dass alle Warnungen vor Gefahren des Internets deswegen ungehört verhallen, weil Funktionalität Reflexion ausschaltet – und dass das Internet eben deswegen so gut funktioniert, weil es so gut zu unserer arbeitsteilig organisierten, auf Verdopplung angelegten Gesellschaft passt, dann ist der Grund für die Alternativlosigkeit, an der Mila verzweifelt, die im Grunde schlichte Einsicht, dass es eben kein Außerhalb der Gesellschaft gibt. Mila sucht es und scheitert daran.

„Zeiten der Langeweile“ von Jenifer Becker ist ein spannender Roman voller Gegenwart, wie man so schön schreibt im Überbücherschreibejargon, der keine einfachen Antworten anbietet und einen lesend zum Denken anregt. Und dafür ist Literatur ja da – ich bin jedenfalls gespannt, worüber die Autorin als nächstes schreibt, interessant wird es bestimmt.

[Foto von Sten Ritterfeld auf Unsplash]


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