Marc Degens – Auf Sendung / Selfie ohne Selbst

Also es ist so: „Auf Sendung“ ist das zweite Buch von Marc Degens, das mir der Berenberg Verlag, der einfach wirklich sehr schöne Bücher macht, unverlangt zugeschickt hat. Ich weiß nicht, warum der Verlag das tut, aber er tut es nun mal, oder eben die zugehörige Presseagentur tut das. Das erste Buch war „Selfie ohne Selbst“ im letzten Jahr und ich wollte es wirklich lesen, eben weil Berenberg so schöne Bücher macht, aber irgendwie kam es nie dazu und jetzt habe ich dieses neue Buch bekommen und damit wird das schlechte Gewissen noch drückender. Außerdem ist „Auf Sendung“ in einem sehr hübschen Hellgrün gehalten, auf dem Cover ist eine Baguette mit Ei, was will man mehr, also geht es los:

Marc Degens ist 1971 in Essen geboren worden, aber in Dorsten aufgewachsen, was ihn auch in „Auf Sendung“, einer Sammlung von Erzählungen (zumindest steht „Erzählungen“ auf der Homepage von Marc Degens, und der wird es ja wissen, hoffe ich), die sich für mich eher wie Essays lesen, und dieses Auflösen von Gattungsgrenzen zwischen journalistischen und literarischen Texten ist ja schon seit Jahrzehnten ein Ding, eine Rolle spielt. Seit er in Dorsten aufgewachsen ist, hat Degens so allerhand gemacht, viel geschrieben, viel veröffentlicht, viel herausgegeben, viel verlegt, viel Preise bekommen.

Bei alledem dürfte dem Autor seine Fähigkeit, genau hinzuschauen und ironische Doppelbödigkeiten im Alltäglichen zu sehen, geholfen haben – die popliterarische Prägung merkt man den Erzählungsessays, deutlich an, aber das ist für einen Autor, der 1971 geboren worden ist ja auch nicht so außergewöhnlich – ebenso wie eben die Vermischung von Literatur und Alltag, Oberfläche und Tiefe, Literarischem und Journalistischem. So stehen etwa in der ersten, titelgebenden Essayerzählung „Auf Sendung“ der Selbstmord einer unbekannten Person und das unerbittliche Weiterfließen eines Alltags mit seinen Notwendigkeiten und Prioritäten von eher geringerer existentieller Bedeutung in tragikomischem Kontrast zueinander.

Ganz ähnlich ist es mit der Essayerzählung „Art Garfunkel“, in der die radikale Oberfläche der von Postmoderne und Popkultur geprägten Welt erzählt wird, in der jede Geste des Widerstands eine bloße Pose ist. Ebenfalls parallel dazu erzählt „Disney für alle“ von einer Pressereise von Marc Degens und einigen Feuilletonisten nach Walt Disney World in Orlando, wo diese Reisegruppe bestehend aus Kindern von Walt Disney und Coke Light durch alle Vergnügungen der Unterhaltungsindustrie tingelt und dabei völlig bruchlos ständig über feuilletonistische Themen redet, weil diese eben auch Teil der Unterhaltungsindustrie sind, was zu sehr schönen Sätzen wie diesen hier führt:

„Am Ende erzählte Willi Winkler von seinem neuen Buchprojekt, das schon seit vielen Monaten überfällig ist und für das er schätzungsweise fünfhundert Bücher gelesen hat: Eine Geschichte der RAF, die die Bewegung aus dem kulturellen Feld der fünfziger und sechziger Jahre Westdeutschlands heraus erklärt. Willi Winklers Welt ist noch faszinierender als die Disneys – ich werde ihn vermissen!“ (S. 133f.)

In „In Sibirien“ geht es eigentlich um die Zeit, die der Erzähler bzw. eben irgendwie Marc Degens selbst gar nicht in Sibirien, sondern als Stadtschreiber in der serbischen Stadt Novi Sad verbracht hat – einer Stadt, die dem Erzählerautor sehr gefällt ob ihres regen und jungen kulturellen Lebens, wovon er einem jungen Fotografen aus Novi Sad erzählt, der daraufhin nur schweigt. Vielleicht wirkte dieses Loblied auf Novi Sad auf diesen Fotografen so, als hätte man dem Erzählerautor gegenüber dessen Heimatstadt Dorsten, über die er in der Essayerzählung „Dorsten“ schreibt, für ihre lebendige Kulturszene gelobt, denn eine solche gibt es Marcdegenserzähleressayistautor zufolge gar nicht.

„Auf Sendung“ ist also ein sehr schön gemachter Band mit Erzählungen oder eben auch Essays oder halt beidem, man weiß es nicht, in einem hübschen Grün und mit einer Eierbaguette darauf, die auch in „Walt Disney für alle“ auftaucht. Die TEXTE in diesem Band sind gut beobachtet und immer wieder voller witziger, doppelbödiger, interessanter Beobachtungen. Ehrlich gesagt interessiert mich hier einfach thematisch nicht alles so wirklich: Wie man so zum Schreiben kommt, wie man so als Schreibender schreibt und lebt und wie es so ist, mit Feuilletonisten zu verreisen – das ist, glaube ich, für Personen, die dem Kultur-/Literaturbetrieb näher stehen, als ich als süddeutsche Lehrkraft das tue, spannender. Aber: Auch ich habe das alles hier recht gern gelesen, dabei auch ein paar Mal nachgedacht, und was will man mehr.

Jedenfalls habe ich dann nach dem Lesen von „Auf Sendung“ und dem Schreiben dieses Blogbeitrags bis zu dieser Stelle auch „Selfie ohne Selbst“, das vorherige Buch von Marc Degens, das ich ja auch irgendwie zugeschickt bekommen habe, wiedergefunden und auch noch gelesen und ich kann nur sagen, dass diese Reihenfolge schon einmal grundfalsch war, macht das nicht, lest erst „Selfie ohne Selbst“ und dann „Auf Sendung“, das ist viel schlüssiger.

„Selfie ohne Selbst“ ist jedenfalls auch so ein Erzählungsessay-Ding, es geht darin um den Schriftsteller und Essayisten Michael Rutschky, der ja auch mit maßgeblich prägend für dieses Essayerzählungsstil war. Rutschky hat in Berlin eine Schule begründet, wenn man so will, indem er junge Autoren (wirklich eher Männer) um sich gesammelt und sie gefördert hat, manche davon waren auch seine engen Freunde. Zu eben diesen gehörte auch Marc Degens, Präteritum hier vor allem deswegen, weil Michael Rutschky aufgrund einer Krebserkrankung 2018 verstorben ist. Das Präteritum könnte auch deswegen gewählt sein, weil Michael Rutschky Tagebücher geschrieben hat, die auch veröffentlicht worden sind, der letzte Band „Gegen Ende“ posthum im Jahr 2019, er umfasst Eintragungen zwischen 1996 und 2009 und in diesen Eintragungen war Rutschky wohl ziemlich gemein gegenüber all seinen Freunden, auch gegenüber Marc Degens. Aber: Deswegen ist das Präteritum nicht gewählt, denn eben deswegen brechen seine Freunde nicht mit Michael Rutschky, sondern sie ringen darum, sich neu und ohne Bitterkeit in ein Verhältnis zu ihm zu setzen, zumindest tut Marc Degens das.

Darüber, was es bedeutet, sich im Kontext der eigenen Trauer um einen Freund und Förderer auch damit auseinanderzusetzen, durch diesen abfällig kommentiert und zumindest augenblicksweise also auch betrachtet worden zu sein, schreibt nämlich Marc Degens in seiner kurzen Essayerzählung „Selfie ohne Selbst“. Es ist ein Buch, in dem der halbe Berliner Literaturbetrieb vorkommt und ich nehme an, man liest das Buch anders, wenn man weiß, wer all diese Stephans und Torstens und Moritze sind – wenn man davon aber nur so eine vage Ahnung hat wie ich, weil Berlin ziemlich weit von München weg ist und der Literaturbetrieb von mir auch eher so dreiviertelweit weg ist, hat man eher das Gefühl, da in eine Sache hineingeraten zu sein, die man nur grob versteht und die einen eigentlich nichts angeht, ein bisschen so, als wäre man auf einer Party gelandet mit lauter Leuten, die man nur sehr flüchtig und kaum namentlich kennt, die aber auch irgendwie zu interessant ist, um wieder zu gehen, weswegen man sich ständig fragt, ob man das hier lesen sollte oder ob das Voyeurismus ist.

Was aber eben interessant ist, auch wenn man sich hier nicht so richtig als das gemeinte Publikum fühlt, ist, das Nachdenken darüber zu verfolgen, was es bedeutet, so zum Gegenstand gemacht worden zu sein, also zu einer Figur, einem Zerrbild, über das geschrieben worden ist. Und was trotzdem schon berührend ist, ist, wie die Autorenfigur darum ringt, Rutschky die Fairness entgegenzubringen, die er selbst vermisst hat. Ich glaube, allein deswegen sollte vermutlich jede*r, die*der schreibt und darin Personen aus seinem Umfeld verwurstet, „Selfie ohne Selbst“ lesen, das scheint mir schon ein wichtiger Text zu sein für Schreibende oder eben Personen aus dem Literaturbetrieb.

Ich glaube wirklich, ich dagegen bin eigentlich gar nicht das Publikum, für das diese Texte geschrieben sind. Immerhin habe ich sie aber trotzdem gern gelesen, mich gefreut über die Leichtigkeit, mit der doch auch schwere Gedanken und Beobachtungen festgehalten sind, und was will man mehr. Höchstens ein Baguette mit Ei vielleicht.

Mein schlechtes Gewissen habe ich jetzt auch abgearbeitet, puh.

[Beitragsbild von Steve Gale auf unsplash.com]


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