Wer sagt denn eigentlich, was Kunst ist?

Immer, wenn irgendwo in Debatten etwa um die moralischen oder politischen Implikationen eines Kunstwerks das Argument der Kunstfreiheit vorgebracht wird, ist damit ein wichtiger Punkt benannt. Und dennoch bleibt da in manchen Fällen bei mir dieser Eindruck, dass dieses Argument so unhinterfragt und unhinterfragbar ist, dass damit ein Tabu markiert wird, obwohl da irgendetwas hinkt, irgendwas nicht mitgedacht ist.

Das folgende Nachdenken über die Frage, was da manchmal so hinkt an diesem Argument der Kunstfreiheit, nimmt seinen ganz konkreten Ausgangspunkt an einem Facebook-Beitrag des Literaturkritikers Carsten Otte, der darin positiv Stellung nimmt zu dem Statement des Verlags Kiepenheuer & Witsch, mit dem sich dieser Verlag von dem Autor Till Lindemann getrennt hat. Otte hatte bereits 2020 kritisch Stellung bezogen zu Lindemanns viel kritisiertem Gedicht „Wenn du schläfst“, das vom damaligen KiWi-Verlege Helge Malchow noch in einem Statement unter dem Verweis auf Kunstfreiheit und die Trennung von Werk und Autor verteidigt worden ist. Unter dem jetzigen Beitrag von Carsten Otte nun meldet sich der Blogger Lothar Struck zu Wort und schreibt unter Rückgriff auf die Diskussion von 2020: „Ich habe die Debatte damals am Rande mitbekommen. Sie, Herr Otte, sind teilweise für Ihre Kritik angefeindet worden und das war natürlich nicht richtig. Der Verlag rechtfertigte die Veröffentlichung damals mit der Kunstfreiheit. In Ihrem Text hatten Sie nonchalant Lindemanns Gedicht(en) den Status als Literatur entzogen. Das ist natürlich möglich, aber ein heikles Unterfangen. Denn nur weil ein Gedicht, eine Prosa, misslungen ist und strafrechtlich relevante Aktionen verherrlicht, kann man nicht plötzlich juristisch argumentieren.“

Und hier, in dieser Anmerkung von Struck, kommt nun alles zusammen, was ich als ungereimt empfinde: Der Verlag rechtfertigt mit Kunstfreiheit. Juristisch darf man dann nicht argumentieren (dabei, so möchte ich anmerken, wäre ja auch und gerade im juristischen Sinne Till Lindemanns Gedicht „Wenn du schläfst“ von Kunstfreiheit gedeckt). Und all das wird ins Feld geführt, um einem Literaturkritiker mehr oder weniger durch die Blume zu sagen, dass er im Grunde einem offensichtlich schlecht geschriebenen Text nicht den Status der Literatur entziehen kann, das sei „heikel“. Nur weil ein Gedicht misslungen ist, darf man ihm den Status der Kunst also nicht absprechen.

Warum eigentlich? Und aus welchem Grund heraus denn sonst? Warum darf ein Literaturkritiker sich nicht hinstellen und mit ästhetischen und inhaltlichen Kriterien sagen: Das ist keine Kunst. Selbstverständlich gilt das dann nicht im juristischen Rahmen, aber eine öffentliche Diskussion, der öffentliche Diskurs über Kunst ist etwas anderes als ein Gerichtsprozess, die juristische Definition ist nicht einfach die für alle Lebensbereiche und alle Fragen tragfähige. Was der oben zitierte Kommentar hier ja im Grunde sagt, ist: Der Verlag hat gesagt, das ist Kunst, also gilt Kunstfreiheit. Wenn du, Literaturkritiker, jetzt kommst und sagst, das ist für dich keine Kunst, dann ist das „heikel“, was meinem Verständnis nach nur eine andere Formulierung ist für: dann darfst du das nicht so einfach.

Warum eigentlich darf ein Verlag, und das passiert ja in ganz weiten Teilen der Öffentlichkeit und prägt dann die öffentlichen Gespräche über Kunst, festlegen, was Kunst ist, warum darf dabei dann die professionelle Kritik und das Publikum nicht mehr mitsprechen? Vielleicht müsste man hier tatsächlich einmal innehalten und darüber nachdenken, was Kunst eigentlich ausmacht und wer das eigentlich festlegen darf. Denn im Moment scheint das primäre Kriterium zu sein, dass ein Verlag den Text veröffentlich hat, dass eine Plattenfirma den Song veröffentlicht hat, dass eine Galerie das Bild ausgestellt hat. Hätte ein 57-Jähriger das Gedicht „Wenn du schläfst“ irgendwo auf Tumblr gepostet, würden mutmaßlich nicht so viele diesen Text zu dem Hügel verklären, auf dem es die Kunstfreiheit zu verteidigen gilt (aller Wahrscheinlichkeit nach wäre der Text aber im juristischen Sinne durchaus weiterhin von der Kunstfreiheit gedeckt).

Das heißt: Die Instanzen, die festlegen, was Kunst ist, sind marktwirtschaftlich orientiert arbeitende Firmen. Es wäre sehr zu wünschen, dass ein Verlag, eine Plattenfirma, eine Galerie allein nach künstlerischen Gesichtspunkten entscheidet, was veröffentlicht und ausgestellt wird. Realistisch ist das nicht. Die Vermutung, dass die Gedichtbände von Till Lindemann verlegt worden sind aus persönlichen Gründen des damaligen Verlegers Helge Malchow und weil Till Lindemann eben Fans hat und also viele Bücher verkauft, ist sehr viel realistischer, als anzunehmen, dass Till Lindemann seine poetischen Werke unverlangt eingeschickt und diese als künstlerischer Hoffnungsstern der Gegenwartslyrik entdeckt und also aus der Überzeugung des Verlags heraus, hier Kunst gefunden zu haben, veröffentlicht worden sind. Die Bücher wurden aus marktwirtschaftlichen Gründen gemacht.

Und so ist das ja nicht nur mit Till Lindemanns Büchern. Bücher sind in Verlagen Produkte. Songs sind in Plattenfirmen Produkte. Die Entscheidung für und gegen sie entspringt nicht dem, dass alle sich bei der Lektorenkonferenz zusammensetzen, über Ästhetik und wahre Kunst debattieren und dann beschließen: Das ist Kunst, das machen wir. In der Öffentlichkeit, im Gespräch über Literatur durch seine unterschiedlichen Instanzen, wird dann aber ein anderes Spiel daraus, nämlich: Unser Produkt ist Kunst, und zwar ab dem Moment, ab dem es unser Produkt ist. Genau dieses Spiel hat Helge Malchow/KiWi auch bewusst gespielt, als Lindemanns „Wenn du schläfst“ 2020 kritisiert worden ist: Es wurde per Statement aus der Presseabteilung verfügt: Das ist Kunst. Und warum nehmen weite Teile der Öffentlichkeit dieses Verfügung per Pressestatement an? Weil der Text veröffentlicht worden ist und eine Instanz, die dafür die Deutungsmacht hat, behauptet hat, es ist Kunst. Und ab diesem Moment steht alles unter dem Schutzschild der Kunstfreiheit, das wird gar nicht mehr hinterfragt. Für einen weiten Teil der Öffentlichkeit legen also Firmen fest, was Kunst ist. Hinterfragt das das Publikum, wird das abgetan. Hinterfragt das ein Kritiker (siehe den eingangs zitierten Beitrag), ist das „heikel“.

Man kann aber eben durchaus fragen: Sollten Firmen im öffentlichen Diskurs darüber allein entscheiden, was Kunst ist? Darf Kritik den Kunstcharakter dann nicht mehr in Frage stellen? Was macht Kunst denn eigentlich zu Kunst? Das sind Fragen, die sich das öffentliche Gespräch über Kunst, über Literatur wieder aneignen müsste, man müsste schon einmal darüber diskutieren, wer eigentlich festlegen darf, was Kunst ist, nicht im juristischen Sinne, da ist das ohnehin geklärt und das ist auch sehr gut so. Aber einfach so zu tun, als wäre die juristische Definition oder aber eine marktwirtschaftliche Definition qua Veröffentlichung schon an sich die Definition von Kunst, spricht doch den eigentlich sich mit Texten, mit Musik, mit darstellender Kunst sich beschäftigenden Instanzen, und zu diesen gehören auch Kritik und Publikum, ab, überhaupt bestimmen zu können, was Kunst ist, das verkürzt Kunst auf ihre juristische oder ökonomische Festlegung.

Denn was für ein Text ist denn das Gedicht „Wenn du schläfst“ von Till Lindemann? Es ist ein derart offensichtlich schlecht geschriebener Text mit deplatzierten, flachen Reimen, dass man nicht einmal viel Lyrik gelesen haben muss, um zu erkennen, dass das keine Kunst ist. Ist ein Text, dem in jedem Vers anzumerken ist, dass der Autor sich noch nie ernsthaft Gedanken über Sprache und Form im Kontext von Dichtung gemacht hat, dass die Debatten, die in den letzten Jahrzehnten, geschweige denn Jahrhunderten über Ästhetik, Form und Sprache, über Form und Inhalt um Bereich der Lyrik geführt worden sind, sogar in dem Maße, wie das an jeder weiterführenden Schule vermittelt wird, am Autor vollständig vorbeigezogen sind – ist ein solcher Text einfach deswegen ein Gedicht und also Kunst, weil der Autor in anderen Bereichen künstlerischer Produktion (Musik, Performance) erfolgreich, durchaus auch stilprägend ist und weil ein Verlag „Gedicht“ draufschreibt? Kann, wer tolle Pyrotechnik-Shows macht, automatisch auch dichten? Überträgt sich die Unangreifbarkeit eines künstlerischen Bereichs einfach so auf den anderen? Ist das dann gleich Kunst, obwohl man legitimerweise argumentieren kann, dass es nur Rumgereime mit Zeilenumbrüchen ist? Ist es Kunst, wenn Inhalt und Form in keinem Verhältnis zueinander stehen, wenn alle gängigen und diskursiv erarbeiteten Konventionen (in Ermangelung einer besseren Formulierung) lyrischer Produktion übergangen werden, und zwar nicht aus einem rebellischen Gestus heraus, dem man anmerkt, dass die Konventionen bekannt sind und bewusst übertreten werden, sondern aus plumper und offensichtlicher Unkenntnis?

Oder auch inhaltlich: Ist Kunst, die lediglich darin besteht, dass sie bestehende Strukturen – hier das Machtgefälle zwischen Mann und Frau, aber in anderen Fällen und Kontexten gilt dasselbe für Rassismus, Queerfeindlichkeit etc. – bis zur Unerträglichkeit bestätigt und reproduziert, denn Kunst? Ginge es nicht darum, Strukturen zu hinterfragen, aufzudecken, ein Nachdenken anzuregen, klarer sehen zu lassen, um neue Strukturen zu ringen, irgendeinem Kern von irgendwas, wegen mir der Heideggerschen Eigentlichkeit, mit künstlerischen Mitteln nahe zu kommen? Tut das ein Text wie Lindemanns „Wenn du schläfst“?

Reicht es, um Kunst zu sein, aus, zu sagen: Das ist Rollenprosa, hier sind Werk und Autor nicht identisch? Reicht als Definition von Kunst aus, zu sagen: Da drückt ein verfassendes Individuum eine Möglichkeit aus, spricht nicht einfach nur authentisch als es selbst? Gehört dazu nicht auch der Wille und die Fähigkeit, Form und Inhalt bewusst zu gestalten? Und: Reicht es aus, wenn ein Verlag behauptet, das hier ist Kunst, hier sind Werk und Autor zu trennen?

Ein Verlag darf einen umstrittenen Text eines umstrittenen Autors als Produkt vertreiben, der Verlag muss dazu nicht dieses Produkt per Pressestatement unter das Tabu der Kunstfreiheit stellen. Tut er das in einem Fall, wo der Status als Kunstwerk unter ästhetischen Gesichtspunkten so offensichtlich in Frage gestellt werden kann, immunisiert er sich und versucht er, weitere Kritik und Diskussion zu unterbinden. Und dafür ist die Kunstfreiheit dann doch ein zu hohes Gut, das ist kein Marketinginstrument.

Warum soll also eigentlich nicht die Kritik, warum soll nicht auch das Publikum einen Anspruch darauf erheben dürfen, Teil an der Deutungsmacht darüber zu haben, was Kunst ist? Warum ist eine Debatte beendet, sobald ein Verleger ein Machtwort spricht darüber, als was ein Text zu betrachten und wie er zu lesen ist? Warum wird dieses verlegerische Deutungsmachtmonopol von so vielen auch dann noch als letztinstanzlich verteidigt, wenn Personen, die ebenfalls professionell mit Literatur arbeiten, begründete Zweifel anmelden? Warum traut man im Rahmen einer öffentlichen Debatte (natürlich nicht: im Rahmen eines Prozesses!) lieber einer juristischen Definition oder der Presseabteilung eines Verlags als dem Prozess des Aushandelns zwischen unterschiedlichen kundigen Akteuren der Öffentlichkeit? Warum entmündigt sich ein Teil der Kritik, warum entmündigt sich vor allem auch das Publikum selbst und die Kritik gleich mit, wenn es um die Frage geht, was Kunst ist?

[Beitragsbild von Calvin Ma auf unsplash.com]


2 Gedanken zu “Wer sagt denn eigentlich, was Kunst ist?

  1. If something is art is decided by the artist. It is up to the beholder to judge the premise the artist suggests. It’s really that simple in basis.

    We can have a whole discussion about the economics involved with art, but that is beside the question you are trying to ask/answer in this article.

  2. Exakt solche Gedanken gehen mir seit der nun wieder aufgebrandeten Diskussion um den „Lyriker Lindemann“ auch durch den Kopf. Mal völlig ungeordnet: Ein Verlag, der hier v.a. kommerzielle Interessen hat, definiert etwas zu Literatur und somit Kunst. Diesen Zusammenhang, ja eigentlich diese Schräglage muss man schon deutlich benennen dürfen. Andererseits: Wer definiert, ob etwas kunstvoll ist oder nicht? Natürlich haben Literaturwissenschaftler und professionelle Kritiker hier ein professionelleres Rüstzeug an der Hand als der durchschnittliche Leser. Aber hey! Wir sprechen hier nicht von Astrophysik oder Herzchirurgie. Will sagen: Fachwissen ist auch nicht mehr Herrschaftswissen, die Literaturkritik hat sich mit dem Aufkommen der Blogs etc. demokratisiert. Andererseits: Gäbe es nun eine Mehrheitsabstimmung, ob Lindemanns Gedichte Lyrik sind und es gäbe da ein klares Ja … müsste man wohl auch damit leben. Letzten Endes entscheidet jeder Leser/in das auch subjektiv für sich alleine. Die Argumentation mit dem lyrischen Ich war für mich schon vor drei Jahren sehr schräg: Das sind eben auch Argumente, mit denen sich „Profis“ von Laien distanzieren, mit denen eine Hierarchie erschaffen wird, die anderen das Mitspracherecht abspricht.
    Dein Beitrag ist klasse und ich hoffe doch, dass er ein wenig Nachdenken und Diskussion auslöst. Zu den Inhalten dieser „Gedichte“ mag ich mich kaum äußern, ich finde sie widerwärtig. Und es gehört eben auch in die Diskussion um den Kunstbegriff allgemein, meine ich: Ist der Kunstbegriff/Literaturkritik von gesellschaftlichen Diskussionen/Veränderungen zu trennen? Gibt es wirklich eine Literaturästhetik, die losgelöst davon ist? Ich meine: nein. Natürlich sollten nicht Moralurteile Grundlage einer Einordnung von Werken sein – aber andererseits gibt es auch keinen luftleeren Raum, in dem diese Werke entstehen (und ebenso schaffen/fördern gerade auch geschriebene Worte eine Art geistiges Klima). Kurzum: Wer es okay findet, ein lyrisches Ich Frauen im Schlaf zu missbrauchen, der gehört einfach kräftig in den Arsch getreten.

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