Anna Albinus – Chalupki

„La dernière chose, c’est la simplicité“, so fasste Frédéric Chopin sein ästhetisches Ideal zusammen: „Das Letzte ist die Einfachheit. Nachdem alle Schwierigkeiten ausgeschöpft sind, eine immense Menge an Noten gespielt worden ist, ist es die Einfachheit, die mit ihrem Charme hervorkommt, wie das letzte Siegel der Kunst.“ Man kann seinen Kompositionen, etwa der sehr bekannten Nocturne Op. 9, Nr. 2, die auch in Anna Albinus Erzählung „Chalupki“ eine Rolle spielt, dieses Ideal anhören, wenn man mag:

In „Chalupki“ erzählt Albinus von einer Schlafwagenschaffnerin, die den Nachtzug auf der Strecke Wien-Berlin begleitet, welcher im polnischen Chalupki geteilt wird. Zu Beginn der Erzählung hat diese Schaffnerin bereits eine weite Reise hinter sich: Sie stammt aus Mossul, ist Kurdin und ihr Weg nach Wien ist nicht eben gerade und einfach verlaufen. Insbesondere ist dieser Weg auch begleitet gewesen vom Verlust zweier Kinder: Eines verlor sie durch eine von den Eltern erzwungene Abtreibung, eines durch die Fahrlässigkeit des Mannes, den sie auf Wunsch der Eltern geheiratet hat – und vor dem sie dann geflohen ist.

Von all diesen Ereignissen erfährt man in „Chalupki“ durch Rückblenden, die ausgelöst werden durch die Ereignisse der ersten erzählten nächtlichen Zugfahrt von Wien nach Berlin, während der eine junge Frau in der Anonymität und Einsamkeit eines Schlafwagenabteils ihre Schwangerschaft abbricht, wodurch jedoch ein anderer Passagier im Nebenabteil gestört wird. Die Schlafwagenschaffnerin quartiert auch aus weiblicher Solidarität heraus den anderen Passagier um, so dass die junge Frau nicht weiter gestört wird – dieser andere Passagier malt dann in dieser Nacht mit einer rätselhafterweise nicht entfernbaren roten Farbe die Noten zu Chopins Nocturne Op. 9, Nr. 2 an die Tür seines Abteils.

Und wenn man so will, hat Anna Albinus selbst keine Erzählung, sondern ein Nocturne, ein Nachtstück geschrieben. Diese Musikform ist, auch wenn sie im Grunde schon älter ist, in der Form, wie sie etwa durch Chopin oder Schumann bekannt ist, zur Zeit der Romantik geprägt worden, sie bezeichnet ein liedhaftes Klavierstück, das, ganz der romantischen Faszination vom besonderen Zeitraum der Nacht entsprechend, meist eher langsam, verträumt oder melancholisch ist. Chopin stellt in seinen Nocturnes den Menschen mit seinen Stimmungen in den Vordergrund und nutzt in der Regel einen recht einfachen, grundsätzlich dreiteiligen Aufbau aus einem Hauptthema A, einem bewegteren Mittelteil B und der Wiederholung des A-Themas bzw. einer Coda. Die Nocturne Op. 9, Nr. 2 etwa folgt dem Aufbau A-A-B-A-B-A-C.

Und „Chalupki“ ist nun eine Erzählung, die im Wesentlichen in der Nacht, im Dunklen, Heimlichen und Inneren verläuft: Ein großer Teil der Handlung findet im Nachtzug statt, abgeschlossen in Zugabteilen und selbst dann, wenn Tag ist, werden die Hotelzimmer und Apartments oft verdunkelt. Äußere Handlung fließt ein, als wäre sie nebensächlich, und wird vorwiegend durch Erinnerungen und Gefühle der Hauptfigur, der Schlafwagenschaffnerin, eingeholt. Sie steht mit ihren Gefühlen im Vordergrund, mit ihren Traumata, die sich in ihr Denken und Empfinden zurückdrängen, nachdem sie Zeugin des Schwangerschaftsabbruchs in einem ihrer Zugabteile geworden ist.

Und genauso wie die Nocturne Op. 9, Nr. 2 hat „Chalupki“ einen ganz klaren, einfachen Aufbau: Zweimal fährt die Schaffnerin mit dem Zug nach Berlin und zurück, in der dritten Fahrt nach Berlin endet die Erzählung, es ist also, wenn man so will: Zug – Berlin – Zug – Wien – Zug – Berlin – Zug – Wien – Zug. Dabei werden, ähnlich wie in einer Nocturne, Motive aufgegriffen und variiert, so erinnert sich die Hauptfigur etwa an eine Schlägerei im Zug immer auf der Fahrt nach Berlin, dagegen an den ersten Mann, von dem sie schwanger geworden ist, während der Aufenthalte in Wien. Die letzte Fahrt nach Berlin, mit der die Erzählung endet, ist eine klassische Coda, die Motive der gesamten Erzählung – eine junge Frau in einer nicht ganz einfachen und finanziell prekären Situation, in der sie auch aufgrund eines Mannes steckt, zudem ist sie eng verbunden mit den Chopin-Noten an der Abteiltür, die Diskretion der Schafwagenschaffnerin – aufgreift und so diese Erzählung abschließt.

Diese relative formale Strenge beschwert die Erzählung aber an keiner Stelle, alles fließt hier erzählerisch ineinander, Erinnerungen und Gegenwart gehen ineinander über, die Erzählhaltung und die Sprache entsprechend der Haltung der Figur: Man kommt den Figuren zwar nah, aber nie zu nah, die Sprache bleibt klar, ohne monoton zu sein, man wacht, wie die Schlafwagenschaffnerin, über Schlaf und Leben der Figuren:

„Im geschlossenen Raum des Zuges kam es öfter vor, dass Leute sich anvertrauten, ganz besonders in den Schlafwagen, wohin man sich mit der Absicht begab, das Gepäck auf die Dauer der Nacht abzulegen, wohingegen die Gäste der Sitzwagen häufig aus mangelndem Vertrauen gegenüber ihren Mitreisenden während der ganzen Fahrt mit ihren Taschen und Rücksäcken auf dem Schoß verharrten, was das Reden nicht begünstigte. Vielleicht hatte sie sich deswegen gleich zu Beginn für die Schlafwagen entschieden. Auch als Krankenschwester hatte sie über den Schlaf der Menschen gewacht und war ihren Leben zuweilen sehr nah gekommen, ohne dass sie dies je als Aufforderung verstanden hätte, jemandes Schicksal weiterzuverfolgen.“ (S. 25)

Dieses wirklich ganz bemerkenswert gekonnte Erzählen hat zumindest mich schon in Anna Albinus‘ Debütnovelle „Revolver Christi“ beeindruckt. Wie in dieser Novelle finden sich auch hier wieder, wenn auch in deutlich zurückhaltenderer Form, Elemente einer Schauerromantik, etwa in Form der doch zunächst rätselhaften roten Notenschrift an der Abteiltür oder aber in der Erinnerung der Protagonistin an einen Besuch der Katakomben in Rom, in denen sie auf ein rätselhaftes Kind stößt, das sich schließlich Münzen auf die geschlossenen Augen legt (was ja mitunter als Abwandlung auf den antiken Brauch des Charonspfennings betrachtet werden kann, und von hier kann man dann wieder Bezüge zu den toten Kindern, die in dieser Erzählung vorkommen, herstellen, yada yada yada).

Insofern hat Anna Albinus hier, so wie ich es lese, eine Erzählung geschrieben, die sich auf vielfachen Wegen mit der romantischen Nocturne Op. 9, Nr. 2 verbinden lässt und die der eingangs zitierten Forderung Chopins an Kunst, dass sie einfach sein müsse, entspricht. In einem anderen Kontext hat Chopin geschrieben: „Das Vollkommene besteht auch darin, dass man einer Sache weder etwas hinzulegen, noch etwas von ihr wegnehmen kann.“ Und dem entspricht „Chalupki“ von Anna Albinus auf seine Art in Form, Sprache und Inhalt.

[Beitragsbild von Giuseppe Famiani auf unsplash.com]


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