Isolde Charim: Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert

In einem, wie immer selbstverständlich augenöffnenden und brillanten, Artikel der Vice über den „neuen deutschen Standard“, in dem vier „Millennials“ erklären, was „deutsch sein in der heutigen Zeit für sie bedeutet“, kann man drollige Dinge lesen. Vor allem kann man lesen, dass man Pluralisierung und Standardisierung offensichtlich irgendwie so einfach zusammendenken kann. Vor allem dann, wenn der Artikel eigentlich Teil einer Werbekampagne für Opel ist, man also hier mustergültig sehen kann, wie es neoliberalem Kapitalismus gelingt, irgendwie alles zu schlucken, egal wie gegensätzlich es ist – Nation, Standard, Pluralität, Nichtstandardisierung –, wenn es nur dazu dient, irgendeine möglichst viele ansprechende Ästhetik zu erzeugen, die verkaufsfördernd sein könnte, also wenn man nur am Ende eben ein Preisschild draufkleben kann.

Aber geht das so einfach: Pluralität und „neuer deutscher Standard“ gleichzeitig? Jein, würde Isolde Charim vielleicht sagen: Pluralität als Standard im Sinne einer Grundvoraussetzung ja, aber das ist dann eben nicht das, was „deutsch sein“ bedeutet, zumindest nicht im Sinne einer Identität. Sondern das ist dann das, was „in einer pluralen Gesellschaft leben“ bedeutet.

charim ich und die anderenIn ihrem Essay „Ich und die Anderen“ geht die österreichische Philosophin und Publizistin Isolde Charim richtigerweise von Pluralismus als gesellschaftlichem Faktum aus: Pluralisierung lässt sich nicht wegwünschen oder wegschimpfen, sie ist längst geschehen und vollzieht sich weiter. Volle Identitäten und klare Zugehörigkeiten sind nicht mehr zu haben, für keinen, denn Pluralisierung verändert alle wechselseitig. Jeder muss heute damit leben, dass seine Identität, seine Lebensweise gleichberechtigt neben anderen steht und stehen können muss. Mit einem kulturwissenschaftlichen Zugriff verabschiedet Charim die Fiktion einer homogenen Gesellschaft und führt vor Augen, wie eine solche, aller Fiktionen entkleideten, demokratische Gesellschaft funktionieren könnte: Indem jeder auf eine volle Identität, die als allgemeingültig gesetzt werden könnte, verzichtet.

Charim durchleuchtet auf den ersten hundert Seiten in vier Kapiteln scharfsinnig und aufschlussreich unterschiedliche Phasen von Individualisierung und Pluralität und untersucht deren Auswirkungen auf Religion und Kultur. Leider folgen darauf weitere hundert Seiten, auf denen Charim zunehmend pauschal und mitunter ziellos argumentiert, so dass nur noch einzelne interessante Beobachtungen – die aber immerhin da sind – gelingen, während viel anderes eher nebulös bleibt. In diesen Kapiteln beschäftigt sie sich mit den Auswirkungen der von ihr beschriebenen Entwicklungen auf das politische Feld. Und diese Kapitel kranken an holzschnittartigen Argumenten und Alternativen ohne Zwischentöne, an einem eigentümlichen Politikverständnis, dem gemäß das Gefühl der Teilhabe wichtiger ist als die realpolitische Veränderung – es mag sein, dass vielen Teilhabe wichtiger zu sein scheint als Veränderung, aber zur Norm braucht man das deswegen ja noch lange nicht zu erheben, es sei denn man will über die richtig Forderung, politische Emotionen ernst zu nehmen, so weit hinausschießen, dass man Politik auf politische Emotionen verkürzt. Daran schrammt Charim leider hart vorbei. Deutlich inspiriert ist Charim hier von Hartmut Rosas Theorie der „Resonanz“, dass dieser jedoch nicht zitiert wird, zumindest in den Fußnoten nicht auf ihn verwiesen wird, ist doch auffällig und kurios. Warum verweist man nicht auf jemanden, der einschlägig ist und den man offensichtlich gelesen hat? Genauso auffällig ist, dass Charim dann – erneut leider wenig konzise – ein ganzes weiteres Kapitel darauf abheben will, dass in der heutigen Situation politische Emotionen ernst genommen werden müssen, allerdings ohne die zwei Autorinnen zu zitieren, die hier eigentlich einschlägig wären: Martha Nussbaum und Eva Illouz. Vieles hätte hier prägnanter und klarer gefasst und argumentiert werden können, wenn man auf die einschlägige Vorarbeit anderer zurückgegriffen hätte. Warum das nicht geschieht, ist nicht nachvollziehbar. So bleibt schlicht unklar, warum man vierzig Seiten auf einen längst gut durchargumentierten Zusammenhang verwendet, ohne dabei zu klaren Schlussfolgerungen zu gelangen oder auch nur die bereits bekannten Zusammenhänge klar zu durchschreiten.

Im letzten Kapitel, das sich mit linken und rechten Identitätspolitiken und der Kritik an ihnen auseinandersetzt, wird dann leider erneut verkürzt argumentiert: Nicht nur behauptet Charim entgegen aller Evidenzen der Migration, die klar belegen, wie viele Menschen heute aus ökonomischen Gründen den Weg in westliche Länder einschlagen, der Westen habe seine „Verführungskraft einer Glücksvorstellung“ eingebüßt, und leitet daraus dann unterkomplexe, schiefe Schlussfolgerungen ab. Sie verkürzt auch massiv die linke Kritik an Identitätspolitik, wenn sie behauptet, diese würde mit ihrer Aktualisierung von Haupt- und Nebenwiderspruch und „Klassenkampf“ nur ökonomische Fragen forcieren und Fragen der Anerkennung und Teilhabe ignorieren – das Gegenteil ist entsprechend einer Theorie, die die Abhängigkeit des Überbaus von der Basis behauptet, der Fall, und auch, wenn man diese Theorie nicht teilt, muss man doch wenigstens einbeziehen, was Leute meinen, die sie teilen, wenn man fruchtbar deren Argumente widerlegen will. Vielmehr meinen diese linken Kritiker doch gerade das: Das Problem fehlender Anerkennung und Teilhabe über die Lösung der ökonomischen Frage bewältigen zu können. Dass Charim damit, dass sie dann Fragen der Anerkennung und Teilhabe deutlich über ökonomische Fragen stellt, ins andere Extrem rutscht und so selbst der Identitätspolitik, die ja ebenfalls eigentlich beide Aspekte im Blick haben möchte, unrecht tut, ist leider die logische Konsequenz daraus. Charim schreibt:

„Und hier muss man einen Punkt festhalten: Die leitende Vorstellung von Pc und Identitätspolitik ist die Inklusion – also das Szenario, bestehende Exklusionen durch aktive Inklusion aufzuheben. Das ist zwar eine (notwendige) Strategie, um die Ungerechtigkeiten einer pluralisierten Gesellschaft zu bekämpfen. Aber es ist zugleich auch eine begrenzte Strategie und kein gesamtgesellschaftliches Konzept. Pc und Identitätspolitik stellen keine wirkliche gesellschaftliche Utopie bereit. Zumal wenn man Inklusion als Einschluss ‚vorgängiger Identitäten‘ versteht – als jene Identitätsverfestigung also, die reaktiv ist und die Dynamik der pluralisierten Gesellschaft abwehrt und die Bewegung des dritten Individualismus verkennt.

Trotzdem aber ist Klassenkampf jenseits der Identitätsfrage heute weniger möglich denn je.“ (S. 208f.)

Warum der Klassenkampf nun unmöglich sein soll, wird nicht geklärt. Indem sie ihn, und damit die Frage ökonomischer Teilhabe, verabschiedet, fällt sie hinter ihre eigene Erkenntnis zurück: Dass Anerkennung/Teilhabe und ökonomische Verhältnisse zusammen hängen. Letztlich sagt Charim damit, indem sie behauptet, eine andere Lösung als Identitätspolitik sei unmöglich und eine wirkliche gesellschaftliche Utopie sei nicht zu haben: Ich will das Elend gerecht über alle gesellschaftliche Gruppen verteilen, das Elend selbst dabei aber nicht antasten. Genau das ist aber just das, was von linken Kritikern der Identitätspolitik vorgehalten wird – da Charim aber anscheinend ein verkürztes Verständnis von dieser Kritik hat, rennt sie mit ihren Ausführungen die Türen dieser Kritik ein und bestätigt sie. Natürlich mag es ein erster Schritt sein, diese Form der Gerechtigkeit herzustellen. Aber so offen schlicht behaupten „Mehr geht eh nicht“ ist doch eine bemerkenswert einfache Haltung, gerade eben dann, wenn man sonst nicht müde wird zu betonen, dass soziale Frage und Statusfrage zusammenhängen.

Damit jedoch nicht genug: Charim lässt auch andere Fettnäpfchen nicht aus, mit denen sie linke Kritik an identitätspolitischen Positionen fast bilderbuchmäßig bestätigt. So wiederholt sie immer wieder die Metaphorik von der „unsichtbaren Hand“ der Pluralisierung, in bewusstem Rückgriff auf die ökonomischen Theorien Adam Smiths – indem sie hier also Kulturtheorie und ökonomische Theorie parallel führt, öffnet sie Tür und Tor für die, die behaupten, „Diversity“ sei nur ein Feigenblatt des Neoliberalismus und damit Teil seiner Ideologie. Und damit nicht genug der ungeschickten Metaphern, die eine solche Kritik bestätigen: Ausgerechnet die „Begegnungszone“ soll als Metapher für die plurale Gesellschaft der Zukunft dienen, eine Verkehrszone, die über die Deregulierung der Verkehrsordnung funktionieren soll – weil keine Verkehrsregeln vorgegeben sind, müssen die Verkehrsteilnehmer aktiv aufeinander achten und also den öffentlichen Raum ohne eingreifende Autorität selbstständig organisieren. Freilich merkt Charim selbst an:

„In anderen Bereichen [als dem Straßenverkehr] führt solche Deregulierung, solche Freistellung von Schutz zu einer knallharten Ellbogengesellschaft.“ (S. 170)

Ja, möchte man sagen: Genau das ist die gängige Kritik am Neoliberalismus. Und man wundert sich, warum Charim dieses Bild dann über mehrere Seiten ausführt, wenn sie doch selbst sieht, dass es nicht übertragbar ist. Die Antwort ist leider: Weil sie es anscheinend nicht sieht, denn später greift sie dem Wissen darüber, dass Deregulierung realiter eben kein so gut funktionierende Lösung ist, zum Trotz darauf zurück:

„Angelehnt an die Verkehrsberuhigung ist die Begegnungszone, wie wir gesehen haben, das gesellschaftliche Konzept eines gleichberechtigten Miteinanders unterschiedlicher Teilnehmer – eine Gesellschaftsberuhigung also, wo die Begegnung sich durch die Unterschiede reguliert.“ (S. 210)

Den Widerspruch zu der eigenen Feststellung, dass Deregulierung nicht einfach auf andere Bereiche übertragbar ist, hat Charim zwischen Seite 170 und 210 nicht aufgelöst. Man fragt sich, ob sie ihn vergessen hat, oder ob sie davon ausgegangen ist, dass der Leser ihn schon vergessen haben wird. Dass sie damit selbst unterläuft, wofür sie eigentlich eintreten will – denn berechtigterweise spricht sich Charim für Pc aus, solange diese nicht zur Zerrform wird, Pc ist aber eben eine Form der Regulierung, Pc ist nicht nur subjektive Einsicht, sondern auch gesellschaftliche Konvention – scheint die Autorin nicht zu stören. Genauso wenig scheint sie zu stören, dass ihr Ideal der „Begegnungszone“ durchaus nicht weniger utopisch ist als das Ideal einer marxistischen Linken, die die „klassenlose Gesellschaft“ fordert:

„Und wie erreicht man diese wundersame Verwandlung von aggressiven Verkehrsbestien? Nicht durch Regeln – der Verkehr soll sich ja von allein organisieren. Nicht durch Appelle wie: Seien Sie doch bitte rücksichtsvoll! Nein, man erreicht das durch – Deregulierung. Das ist die bewusste, gezielte Herstellung von subjektiver Unsicherheit. Raumplaner sagen das ganz offen. Durch räumliche Gestaltung – wie dem Wegfall von eindeutig zugeordneten Straßenflächen – erzeugt man beim Einzelnen ganz absichtlich das Gefühl Unsicherheit. Denn genau das führt zu verändertem Verhalten. Die Unsicherheit des Einzelnen erzeugt eine sicherere Gesamtsituation.“ (S. 169),

behauptet Charim da einfach, und ignoriert dabei, was sie selbst schreibt, was man weltweit derzeit beobachten kann: Die Unsicherheit des Einzelnen erzeugt beileibe nicht durch irgendeine „unsichtbare“ Zauberhand eine sichere Gesamtsituation, das Gegenteil ist der Fall. Charim kippt hier eben von einer Seite des Skala zur anderen, einen Mittelweg möchte sie nicht vorschlagen. Stattdessen greift sie zu einer Utopie, die die von Libertären sein könnte: Deregulierung, völlige Abgabe jeder Verantwortung an das Individuum.

Ärgerlich ist das allemal, denn mit alledem bestätigt Charim nolens volens die linke Kritik an ihrer Position, die sie so verkürzt wiedergibt und also nicht widerlegen kann. Das ist bedauerlich, denn ihrer eigenen Position tut sie damit keinen Gefallen.

Hätte das Buch auch auf den letzten hundert Seiten im Blick behalten, was die Autorin selbst weiß und richtigerweise mehrfach festgehalten hat – dass soziale und ökonomische Teilhabe zusammenhängen und nur zusammen hergestellt werden können – statt in unterkomplexen Alternativen zu denken und sich dann auch noch für eine Seite zu entscheiden, statt beide zusammen zu halten, hätte das ein hervorragender zweihundertseitiger Essay sein können.

So muss man leider sagen: Ein bedenkenswerter, spannender, lesenswerter und gut zu lesender Essay, der auf den ersten hundert Seiten sehr klar und konsequent argumentiert, dann aber leider irgendwie auf hundert weiteren Seiten eher grob und ohne notwendige Sorgfalt, sowie rätselhafterweise ohne Einbezug der einschlägigen Autorinnen und Autoren, zu Ende geführt worden ist. Wer am Thema interessiert ist, sollte „Ich und die Anderen“ von Isolde Charim unbedingt lesen, es lohnt sich. Vielleicht auch gerade deswegen, weil man hier einiges gewinnbringend hinterfragen kann, was sowohl die eigenen Positionen, aber auch die Charims betrifft.


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