Gudrun Seidenauer – Libellen im Winter

„Wir werden vom Schicksal getrieben und das Ende ist immer Verzicht“, singt Zarah Leander in dem Film „Es war eine rauschende Ballnacht“ von 1939 – und es ist diese Zeile des Liedtextes, die Grete, einer der Frauenfiguren aus Gudrun Seidenauers Roman „Libellen im Winter“, nicht mehr aus dem Kopf geht.

Das ist wenig erstaunlich, denn Grete und ihre beiden Freundinnen Mali und Vera sind vom Schicksal Getriebene, die immer wieder Verzicht üben müssen, und dieses Schicksal, das sie vor sich hertreibt, ist ein von Männern gemachtes Schicksal: Alle drei sind im Zweiten Weltkrieg im nationalsozialistischen Regime aufgewachsen und sind in der Zeit des Krieges sowie unmittelbar danach in ihrem Wiener Alltag der Willkür und Macht von Männern ausgeliefert, von denen ihr Leben und Überleben abhängt.

„Alle Welten, die Grete kannte, waren Männerwelten: Es war ihr Krieg gewesen, jetzt war es ihr Frieden. Die Frauen begleiteten sie, ob als Objekte ihrer Sehnsucht, als ihre Helferinnen, Antreiberinnen, Mitwisserinnen, Opfer, sie blieben Schatten, die nicht aus sich selbst sein, hoffen, wünschen konnten. Nicht zu denken war an Glück oder Sinn ohne Männer.“ (S. 99)

Gudrun Seidenauer holt nun drei dieser Schatten aus dem Dunkel: Ihre drei Frauenfiguren Mali, Vera und Grete haben alle in der einen oder anderen Form Gewalt durch Männer erlebt, sie wissen um ihre Abhängigkeit von Männern. Und sie entscheiden sich auf ganz unterschiedliche Weise dafür, im Kleinen im Widerstand gegen diese Männerwelt zu leben: Die drei Frauen schlagen sich alleine durch, getragen von der Solidarität untereinander in einer Frauenfreundschaft, die die Figuren selbst als so selten wie Libellen im Winter (vgl. S. 287f.) bezeichnen.

Dabei erzählt Seidenauer ganz leicht und sehr plastisch von der Enge der Nachkriegszeit und dem Wohlstand, der auf diese folgt. So wird die Wärmestube zu einem Laden für Küchenutensilien, intensivierte Körperpflege und MakeUp halten mit der Zeit Einzug in die Haushalte der Frauen, veränderte Lebensmittel zeigen den steigenden Lebensstandard der Frauen. Erzählerisch gekonnt wird das Verschweigen und Verdrängen der ganzen Kriegsgeneration eingefangen, wie nebenbei fließt die Perspektive der Kriegsenkel, die ohne Väter oder mit hochgradig traumatisierten Vätern aufgewachsen sind, ein. Immer wieder hört man von ihnen, von

„Väter[n], die im Schlaf vor Angst schreien und tagsüber alle herumkommandieren. Die schweigen wie Gräber. Deren Wut von Winzigkeiten entfacht wird. Die in tagelanges Brüten verfallen. Die mit der Arbeit verheiratet sind, keine Stunde still sitzen können. Die ihr altes Gesicht verloren haben und mit zwei fremden wiedergekommen sind. Die Schmerzen haben. Die trinken, niemanden zu sehen scheinen. Die ganz normal sind. Bis auf bestimmte Stunden, Situationen.“ (S. 147f.)

Den drei Frauen machen diese Männer Angst. Und eine der dreien bevorzugt ohnehin Frauen – und ist damit der Diskriminierung ausgesetzt, mit der Homosexualität in den Jahrzehnten nach 1945 verbunden gewesen ist.

So führt der Roman souverän erzählt und unter immer größeren Zeitsprüngen von den letzten Kriegsjahren bis in die letzten Jahre der Gegenwart: In den letzten Kapiteln wird eine weitere zentrale Frauenfigur eingeführt, die sehr viel jünger ist als Mali, Grete und Vera. Manal ist Yezidin und vor dem IS nach Wien geflohen – auch sie ist eine vom männlichen Schicksal Getriebene, auch sie hat extreme Gewalt durch Männer erfahren. Und auch sie wird Teil der weiblichen Solidargemeinschaft.

Und so schön der Gedanke ist, so gut das alles erzählt ist, so schön und gelungen es ist, dass die Frage danach, was Erzählen und Sprechen für den Umgang mit der Vergangenheit bedeuten, den Roman durchzieht, lassen sich spätestens hier die Schwächen der Romankonzeption nicht mehr ignorieren. Schon zuvor hätte man dem Roman ein genaueres Lektorat gewünscht, wenn etwa Robert, Malis Sohn, erst unverkennbar den Mund seiner Mutter (vgl. S. 195) und dann später doch den Mund des Vaters (vgl. S. 301) hat oder wenn nach einem Zeitsprung von 30 Jahren, der etwa in die 1990er Jahre führen dürfte, ein Sudoku gelöst wird (vgl. S. 288), obwohl das erst ein Jahrzehnt später aufgekommen ist. Dergleichen sind aber natürlich Petitessen – die Schwierigkeiten des Romans liegen tiefer in seiner Konzeption.

So reiht sich dieser Roman ein in die vielen deutschsprachigen Romane, die von der Zeit kurz vor und nach dem Kriegsende erzählen anhand von Figuren, die irgendwie ein bisschen Mitläufer, aber vor allem recht unschuldig und eigentlich irgendwie immer schon ein bisschen gegen die Nazis waren. Die Figuren verdrängen ihre eventuelle Mitschuld, die Ermordung von Jüd*innen wird am Rand mal thematisiert, das Wegschauen der Figuren immerhin an einzelnen Stellen durch andere Figuren kritisiert, häufiger eher als „so was das halt“ erklärt:

„Als sie ein Kind war und auch später, war sie genauso: Sie selbst hätte keine alte Frau aus der Straßenbahn geworfen, aber gesehen hat sie es. Und gesagt hat sie nichts. Man hat sich daran gewöhnt.“ (S. 279)

Soweit ist das bedauerlich, aber bekanntermaßen ein strukturelles Problem deutschsprachiger Romane, die von der Zeit des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit erzählen. Wirklich schade ist es dann aber, wenn der Roman diese Art des Erzählens, das Frauen als Opfer thematisiert, ohne genau genug zu überlegen, ob sie nicht in diesem historischen Kontext auch Täterinnen waren, steigert, indem diese Frauen mit einer yezidischen Flüchtlingsfrau parallelgeführt werden, die, wie Grete, Mali und Vera eben auch, Opfer einer Gewalt ist, die von Männern ausgeübt worden ist. Spätestens hier stellt sich dann doch die Frage, ob hier Schicksale parallelisiert werden, die eben nicht parallel sind: Mali, Grete und Vera sind eben nicht Teil einer Minderheit, die einem Völkermord ausgeliefert war, vielmehr sind sie Teil einer Mehrheit, die Völkermord ausgeübt hat. So richtig und wichtig es ist, weibliche Solidarität über die Grenzen von Ländern und Religionen hinweg zu erzählen, werden hier doch für diesen spezifischen Kontext wichtige Unterschiede simplifizierend eingeebnet. Der Nationalsozialismus war nicht einfach ein rein männliches Geschehen, Vera, Grete und Mali sind nicht einfach nur Opfer. Manal, die Yezidin, ist dagegen Opfer eines Völkermordes. Man wird weibliche Solidarität und männliche Gewalt wohl dann doch nicht so historisch unterkomplex fassen können.

Und selbst, wenn man hier keine historischen oder moralischen Bedenken hat, wirken die Kapitel, in denen plötzlich Manal auftaucht, so lose an den Rest des Romans angeschlossen, dass diese auch erzählerisch und eben konzeptionell ein Problem darstellen. Der Roman hätte ohne diese Kapitel und ohne diese Figur in mehrfacher Hinsicht besser ausgesehen. Schade, dass da niemand im Lektorat entschiedener abgeraten hat. Insofern passt es gut zu diesem Roman, dass ein zentraler Gedanken des Romans – das Getriebensein durch das (von Männern gemachte) Schicksal – in einem Zarah Leander-Zitat benannt wird. Denn die Rolle Zarah Leanders für den Nationalsozialismus wird ja hier auch nirgends reflektiert. Unterdrückung ist komplex, sie auf ein Merkmal, das Geschlecht, zu reduzieren, greift zu kurz. Davon abgesehen ist „Libellen im Winter“ ein gut erzählter Roman mit plastischen Figuren, denen man gerne folgt – und gerne auch in eine kritischere, tiefergehendere Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung gefolgt wäre.

[Beitragsbild von Jude Infantini auf unsplash.com]


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