Ein Gastbeitrag von Matthias Warkus
In Deutschland waren noch nie so viele Menschen erwerbstätig wie heute. Zirka drei Viertel von ihnen arbeiten im Dienstleistungssektor. Etwa 1,2 Millionen sind allein in der IT beschäftigt. Künstler*innen und Publizist*innen gibt es viel weniger – die Künstlersozialkasse zählt nur knapp 200 000 Versicherte. Dennoch ist es eine häufig wiederholte Beschwerde über den Ausstoß des deutschsprachigen Literaturbetriebes, dass das, was man gerne Arbeitswelt nennt, darin nur am Rande vorkommt. Es handeln viele Romane von Schriftstellern, aber nur wenige von IT-Kauffrauen oder Bilanzbuchhaltern.
Umso schöner, wenn einmal ein groß beworbener Titel erscheint, dessen Protagonist*innen tatsächlich in »der Arbeitswelt« zuhause und keine Kulturwirtschaftsmenschen sind. Ein solches Buch ist Mindset von Sebastian Hotz (Köln: Kiepenheuer & Witsch 2023, 280 S.). Hotz ist ein in den deutschsprachigen sozialen Medien omnipräsenter Vieltwitterer. An anderer Stelle hat er bereits bekräftigt, dass der Autor Hotz und der Twitterer Elhotzo vollständig deckungsgleich sind, weswegen es auch völlig legitim ist, entsprechende Vergleiche anzustellen. Ich hatte ursprünglich vor, in dieser Rezension darauf zu verzichten, aber es geht leider nicht anders. Man kann Hotz’ Buch nicht sinnvoll losgelöst von Elhotzo interpretieren.
Hotz verdankt seinen enormen Erfolg in den sozialen Medien neben seinem schieren Output vor allem der Tatsache, dass er einen Vibe, der Twitter* zu einem nennenswerten Teil, wenn nicht fast zur Gänze, erfüllt, auf den Punkt bringt. Der Kern dieses Vibes ist die als Empathie kostümierte Herablassung gegenüber Menschen, deren Leben nicht in irgendeiner Form um kreative Textproduktion kreist. Die dazugehörige politische Einstellung ist eine Art misanthropisch-resignatives Linkssein: Man hat vollständig akzeptiert, dass die Gesellschaft der westlichen Industrieländer eine kapitalistische, dem Untergang zusteuernde Hölle ist, in der niemand genuin glücklich ist (nur dass das noch nicht alle bemerkt haben). Ebenso, wie die Geschichte der Menschheit sich nur noch wankend und kurz vor dem Umfallen die Zeitachse entlangschleppt, schlurfen die Menschen je individuell nur noch grau und niedergeschlagen durch ihren sinnentleerten Alltag, der auch durch ständiges Starren in die Timeline und gelegentliches Shitposting nicht aufgewertet, sondern eigentlich nur trister wird. Es gibt allerdings Schattierungen des Unglücks und das Unheil ist nicht vollends systemisch bedingt, sondern es tragen durchaus bestimmte Menschen mehr Verantwortung als andere. Deswegen ist es legitim, ironisch-unironisch Verachtung für verschiedenste Menschengruppen zu äußern (Milliardäre, »Liberalos«, gutsituierte Rentner, Männer, Deutsche, die Grünen), während andere Gruppen hingegen bedingungslose Solidarität verdient haben. Wie gießt Hotz all dies nun in Romanform?
Mirko Mihalic, IT-Supportmitarbeiter Mitte 20, wird auf Instagram auf den Business-Motivationscoach Maximilian Krach aufmerksam und besucht eines seiner kostenlosen Seminare. Krachs – nicht sonderlich beliebtes – Coaching ist nicht mehr als ein Pyramidensystem zum Vertrieb einer wertlosen Kryptowährung und seine Neureichen-Selbstinszenierung eine glatte Lüge. Er ist kein Investor, sondern Pizzabote, und er ist auch nicht mit seinem neuen Bentley aus München angereist, sondern wie Mirko mit dem Regionalexpress aus Gütersloh. Seine teuren Uhren und glamourösen Instagram-Fotos sind gefälscht, die Follower zusammengekauft.
Mirko wird begeisterter Anhänger Krachs, was ihm unter anderem die irritierte, aber auch fürsorgliche Aufmerksamkeit seiner älteren Arbeitskollegin Angela einbringt sowie im Anschluss eine Einladung zu einem Vereinsfest und einen erheblichen Kater. Krach hingegen hat auf dem Bahnhof von Warburg (Westfalen) eine Begegnung mit einem gescheiterten Erfinder, der ihn seine Leistungsideologie hinterfragen lässt. Das bringt ihn sogar dazu, Sympathie für gewerkschaftliches Engagement seiner Lieferdienst-Kolleg*innen zu entwickeln; seine Aktivität als »Krach Consulting« stellt er in den sozialen Medien vorläufig ein.
Da Krach zu Anfang des Romans eine Rechnung in einem Hotel in Mülheim an der Ruhr nicht bezahlen konnte und auf Anrufe nicht reagiert, versucht die dort beschäftigte Rezeptionistin Yasmin Kara, die die Zahlung eintreiben soll, Näheres über ihn herauszufinden. Dabei wird sie beim Recherchieren auf einer Datingplattform auf Mirko aufmerksam, der seine Affinität zu Krachs sektenähnlichem Coaching-Programm dort in seinem Profil erwähnt. Yasmin heuchelt Interesse für Mirko und trifft ihn schließlich in Gütersloh, um ihn über Krach auszuhorchen. Die beiden bestellen Pizza und der Pizzabote ist: Maximilian Krach.
Krachs längerem Social-Media-Schweigen folgt nun endgültig das öffentliche Eingeständnis, dass alles eine Lüge war. Er zieht vom Feldbett in seinem angemieteten Büro in ein leerstehendes Zimmer von Mirkos Wohnung. Der Tagungsraum für das nächste Seminar in Wolfsburg ist allerdings schon gebucht und er kann es sich nicht verkneifen, noch einmal hinzugehen. Die Pointe des Buchs: Es kommen trotzdem Teilnehmer, genau wie zu Zeiten von Krachs Hochstaplerexistenz, nur dass auch diese sich jetzt ehrlich machen und keinen Erfolg mehr simulieren. Das Coaching wird offen das, was es zuvor schon de facto war: eine Selbsthilfegruppe für junge Männer auf Sinnsuche.
*
Man fragt sich in Mindset von der ersten bis zur letzten Seite, wie es weiter- und am Ende ausgeht. Für ein gesellschaftskritisch angelegtes deutsches Romandebüt, in dem nach klassischen Maßstäben nicht so richtig viel passiert (es stirbt, erbt, heiratet, verliebt sich niemand, niemand bekommt ein Kind, verliert seine Stellung, zieht in den Krieg oder vor Gericht), ist das überhaupt keine Selbstverständlichkeit. Hotz erreicht dies mit der ausgetüftelten Konstruktion mit verschiedenen wechselnden Erzählperspektiven; damit, dass gleich zu Anfang eine Panikattacke Krachs gezeigt wird, die darauf hinweist, dass etwas mit dem hochglänzenden Mann im Slimfit-Anzug nicht stimmt; und damit, dass diverse falsche Fährten gelegt werden, so dass bis zum Schluss unklar bleibt, wie Krach zu Fall kommen wird.
Mindset ist also schwer aus der Hand zu legen und enthält mindestens eine wunderschöne Beobachtung (nämlich dass und auf welche Weise es merkwürdig ist, Wasser aus einer Tasse statt einem Glas zu trinken, 265). Damit hört das Gute, das sich darüber sagen lässt, aber auch schon weitgehend auf.
Zunächst einmal geht es, obwohl der Roman ostentativ versucht, eine Atmosphäre von melancholischem Realismus zu erzeugen, nicht sonderlich realistisch zu. Man wird zum Beispiel genötigt zu glauben, dass ein Hotel, das zum größten Hotelkonzern der Welt gehört, eine unbezahlte Rechnung von einer Rezeptionsmitarbeiterin eintreiben lässt. Das »Schützenfest«, zu dem Mirko eingeladen wird, ist eine Indoor-Abendveranstaltung mit Glaskiesel-Tischdekoration. Eine Grundprämisse der Handlung ist, dass Maximilian Krachs Coaching-Veranstaltungen kostenfrei sind; man muss sich noch nicht einmal anmelden, was mindestens bizarr ist. Zu Anfang des Buchs zieht Krach, der arm ist wie eine Kirchenmaus, sich auf einer kostenpflichtigen Bahnhofstoilette um, obwohl es für die Handlung viel sinnvoller wäre, wenn er das erst im Hotel täte. Mirko, ein ca. 1994 geborener IT-Fachmann, hat im Bad keine Bluetooth-Box, kein Sonos-Gerät oder dergleichen, sondern er hört jeden Morgen unter der Dusche einen Radiosender, dessen Musik ihm nicht gefällt. Zugegeben: Jeder einzelne dieser Punkte ist pedantisch, sie ärgern nur in der Summe. Was wirklich stört, ist, dass Hotz seine Figuren, selbst wenn man von ihrer Umwelt absieht, so lieblos behandelt.
Wenn er sich in den Servicedesk-Mann Mirko hineinversetzt, um von innen heraus zu beschreiben, wie das Leben von jemandem aussieht, der einem halbseidenen Coach wie Maximilian Krach auf den Leim geht, fällt ihm nicht mehr ein als die trübsten Klischees. Der IT-Fachmann lebt seit sieben Jahren in Gütersloh, trifft ab und zu alte Freunde, hat ab und zu sogar ein schlechtes Date, bei dem er in der Gütersloher Innenstadt spazieren geht – aber auch wirklich nur spazieren geht, denn er kann bei seinem Treffen mit Yasmin keinen Ort nennen, an dem man etwas trinken gehen könnte. Seine Online-Aktivitäten, die sein halbes waches Leben einnehmen, werden nur erwähnt, aber über viel Instagram-Durchscrollen hinaus kaum geschildert. Dass der bräsige Mirko nach einem einzigen Krach-Seminar das Gerede über Kryptowährungen schluckt, ohne dass irgendwie plausibel erklärt wird, warum, dass er sogar sofort versucht, den »$EGO« seiner Kollegin als Investition anzudrehen, passt ins Bild: So jemand ist halt nicht der Schlauste und leicht zu beeindrucken.
Auch die anderen Figuren sind plakativ gezeichnete Klischeeansammlungen. Etwas wie Sympathie mit ihnen ist nicht erkennbar. Ihre Sprache ist oft unglaubwürdig (»Boss, ich wollte nicht zweifeln«, sagt einer der Seminarteilnehmer, 36). Eine Figur gibt es, die nicht unbedingt Hotz’ Sympathie hat, aber im Gegensatz zu den anderen immerhin erkennbar als tatsächlich souverän agierender Mensch gezeichnet wird, nämlich die Rezeptionistin Yasmin Kara. Dankenswerterweise erlaubt sich der Verfasser nur hier und da zupackend misanthropische Beschreibungen (»nach Kaffee stinkende Mäuler«, 88). Er ist schließlich nicht Heinz Strunk, es bleibt bei milder Verachtung. Und so ist es vermutlich auch überzogen, wenn man die dozierenden und ironisierenden Kapiteleinleitungen (»Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich freiwillig Schlaf entzieht«, 40) und den abschätzigen Blick auf die Figuren als Anleihe bei Michel Houellebecq sehen will; wenn man ehrlich ist, klingt es mehr nach Douglas Adams.
*
Da Hotz bzw. Elhotzo die webersch idealtypische Verkörperung des zu Anfang skizzierten Twitter-Vibes darstellt, wundert es einen nicht, dass sich manche Passagen lesen, als hätte er überlegt, wie er die Inhalte seiner beliebtesten Tweets noch einmal im Roman unterbringt. Nur ein Beispiel dafür: Elhotzo sorgte vergangenes Jahr für erhebliches Aufsehen mit seiner Aussage, dass er »ganz bestimmt nicht für die fucking NATO sterben« werde, und verschiedenen anderen Tweets, die sich mit den Antiimp-Positionen z.B. von Wolfgang M. Schmitt oder verschiedenen Linkspartei-Politiker*innen decken. In Mindset geschieht nun nichts, was irgendeinen auch nur entfernten Bezug zum Ukrainekrieg oder einem anderen bewaffneten Konflikt hätte. Dennoch hat Hotz im Vorspann zu Kapitel 8 eine in ihrer politischen Plattheit an Fernsehkabarett erinnernde Aufzählung von Anliegen untergebracht, für die in Deutschland angeblich in Kontinuität zum Nationalsozialismus der Heldentod gestorben werden soll, und zu denen dann auch die »Wertegemeinschaft der NATO« gehört (235).
Mindset hakt mit seinen Urteilen alle Punkte eines repräsentativen Deutschtwitter-Weltbilds ab. Dass es mit der oben bereits genannten Yasmin Kara eine migrantische Frau ist, durch die Hotz das Schicksal von Maximilian Krach vollstreckt, die ihn auffliegen lässt, auslacht und ihm am Schluss sogar großzügig die Zahlung stundet, die einzutreiben sie doch eigentlich von ihrem Chef ausgeschickt wurde, liegt völlig in dieser Logik. Es hinterlässt aber einen faden Nachgeschmack von performativer Desidentifikation. Man kann sich aus seiner Haut als weißer deutscher Sebastian mit dualem BWL-Abschluss nicht herausschreiben, auch nicht, wenn man sich durch eine fiktive coole Frau mit griechischem oder türkischem Namen hindurch äußert.
Soll man Mindset nun lesen? Wenn es darum geht, einen oder zwei kurzweilige Nachmittage zu haben, dann ja: Das Buch ist spannend, unterhaltsam und der Humor nur selten bemüht, oft sogar wirklich gut. An einen literarischen Text kann man allerdings noch mehr Erwartungen stellen als unterhalten zu werden, und für einen reinen Unterhaltungsroman hat Mindset zu wenig Handlung, zu wenige Pointen und zu wenige Seiten. Eine Leistung jenseits der Unterhaltung ist aber, obwohl offenbar beabsichtigt, kaum zu erkennen; die Personen und Szenerien bleiben zu oberflächlich und klischiert, als dass die Lektüre wirklich welterschließend und horizonterweiternd wirken könnte. Eine gesellschaftskritische Absicht ist sicherlich da, aber wegen der beschriebenen Schwächen ist kaum damit zu rechnen, dass dieses Buch jemanden zu Zweifeln am Selbstdisziplinierungskult der digitalen Leistungsgesellschaft bringt, der sie nicht schon längst hat.
Auch wenn es wohltuend ist, dass ein Buch einmal unter Angestellten aus Ostwestfalen-Lippe statt unter Berliner Kreativwirtschaftlern spielt: Ein Gesellschaftsroman im Sinne eines Erkenntnisinstruments ist Mindset nicht. Dass dieses Buch existiert und dass es gekauft wird, ist von seinem Inhalt letztlich auch unabhängig; es ist ein Cash-in auf die (relative) Berühmtheit des Verfassers. Damit ist Mindset kategorial nichts anderes als z.B. die vielen Romane aus der Feder bekannter Fernsehschauspieler oder das Buch von Dirk Roßmann.
Der Autor dankt Katharina Herrmann für die Möglichkeit zur Publikation sowie Peter Hintz für die umfassenden und detaillierten Rückmeldungen zum Text.
___
*Wie im deutschsprachigen intellektuellen Diskurs üblich, bezeichne ich hier mit »Twitter« nicht die gesamte Plattform, sondern lediglich den Teil von ihr, der von publizistisch oder sonst kulturwirtschaftlich tätigen Akademiker*innen geprägt ist, deren Wortschatz die Wörter »Habitus«, »Grind« und »schl00nd« enthält.
[Das Beitragsbild stammt von Ian Schneider auf unsplash.com]
Eine wirklich gelungene Besprechung – ich fand, dass die Stelle im Parkhaus, die Verfolgung Mirkos von Maximilian, die darin endete, dass dieser sich nicht mehr aus dem Parkhaus heraus traute und von dem diensthabenden Wachmann getröstet wurde, tatsächlich literarischen Charakter bekam. Wohl durchdacht und gutkomponierter Erzählinstanzwechsel. Mehr habe ich aus dem Buch nicht herausziehen können. Ich habe eine sehr plakative Neufassung von „Die Welle“ im Auge gehabt, ebenfalls sehr didaktisch.