Zwischenzeitlich riecht es nicht gut im Dorf. Sagen andere – Julia selbst riecht nichts. Bis sie der Sache auf den Grund geht und feststellt, dass es wirklich ziemlich gestunken haben muss. Und wie dieser Geruch, dessen Ausgangspunkt gut versteckt worden ist – aus Scham, aus Faulheit, aus Gewohnheit – durchzieht noch anderes das Dorf, das den Menschen das Leben schwer macht: Erwartungen, Zuschreibungen, schnelle Urteile etwa.
Denn in ihrem dritten Roman „Wovon wir leben“ erzählt Birgit Birnbacher von Julia, die aus dem Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, als Krankenschwester in die nächste Kleinstadt gezogen, ja eher: geflohen ist. Zumindest so lange, bis ihr gekündigt wird, weil sie überlastet ist, Fehler macht, eine Lungenkrankheit entwickelt. Sie kehrt notgedrungen in das Dorf und in ihr Elternhaus zurück, trifft dort auf Oskar, der gerade einen leichten Herzinfarkt auskuriert und dem das Landleben so gut gefällt, dass er sich im Dorf niederlassen will. Er, der aus der Stadt kommt und also auch meist einfach „der Städter“ genannt wird, geht den entgegengesetzten Weg zu Julia und hat einen ganz anderen Blick auf Stadt und Dorf – und als sich eine Beziehung zwischen beiden entwickelt, geht er wie selbstverständlich davon aus, dass auch sie im Dorf bleiben wird, bei ihm.
Und damit sind schon einige der Fragen, von denen Birnbacher erzählt, angerissen: Es geht um die Rollen von Männern und von Frauen, um unausgesprochene Erwartungen, um die Freiheit, sein Leben selbst wählen und gestalten zu dürfen. In der Welt, die Julia erlebt, ist das eine Freiheit, die eher Männern sich nehmen – und die sie damit den Frauen wegnehmen. So ist es in dem Dorf, wie sie es erlebt: Da jagen Männer ihre Frauen quer durch die Landschaft, da weisen Männer den Frauen ihre Rollen zu, ohne zu fragen.
Als Julia in das Haus ihrer Eltern zurückkehrt, muss sie als erstes feststellen, dass ihre Mutter nicht mehr da ist, sie hat ihren Mann verlassen, macht jetzt das, was sie als junge Frau, vor ihrer Hochzeit, wollte: Sie reist, lebt ein eigenes Leben. Julias Vater hat ihr nie davon erzählt, die Anrufe der Mutter hat sie aus unterschiedlichen Gründen nie angenommen. Der Vater erklärt Julia, ihre Mutter habe „komplett zum Spinnen angefangen“ (S. 37) und werde noch bereuen, ihn im Alter allein gelassen zu haben, denn wenn er sterbe, wird sie sich „[e]wig […] Vorwürfe machen, das wird nicht schön. Ganz und gar nicht schön, hässlich sogar, sehr hässlich ist das, wenn Frauenleben so enden.“ (S. 39) So blickt man im Dorf auf Frauen: Sie haben Rollen, sie werden nach ihrer Individualität, nach ihren Träumen nicht gefragt, unglücklich werden sie schließlich erst, wenn sie die vorgegebene Rolle dann schlecht erfüllt haben. Genau dem wollte Julia entkommen.
Und entkam all dem doch nur scheinbar: Sie führte in der Kleinstadt eine Beziehung mit einem Mann, der ihr genau den Raum zuwies, der in seinem Leben noch übrig war. Sie übernahm die Rolle der fürsorglich sich aufopfernden Frau als Krankenschwester, bis sie nicht mehr konnte, bis ihr diese Rolle die Luft zum Atmen nahm. Und als sie zurückkehrte zum nun alleine lebenden Vater, erwartet dieser stillschweigend, dass sie nun die Lücke füllt, die ihre Mutter hinterlassen hat: Kochen, putzen, den Vater versorgen. Und selbst Oskar, mit dem sie in eine Zukunft blicken könnte, fragt sie nicht, was sie will, sondern geht einfach davon aus, dass seine Zukunftsprojekte auch die ihren sind. Zudem sieht Julia, wie viel Dorf in ihr selbst steckt, wie sehr sie selbst die Mutter nicht als Individuum, sondern als Rolle wahrgenommen, ein Stück weit auf ihr Leben herabgeblickt und stillschweigend erwartet hat, dass die Mutter auch sie immer weiter umsorgen wird.
Vielleicht auch, weil diese Berufe mit den Rollen, die ihnen gesellschaftlich zugewiesen werden, verbunden sind, gehen Oskar und Julia nicht nur in geographischer, sondern auch in beruflicher Hinsicht entgegengesetzte Wege, ausgehend von einschneidenden Erkrankungen, die vielleicht auch symbolisch zu verstehen sind: Sie, der der stereotyp weibliche, soziale Beruf der Krankenschwester schließlich die Luft zum Atmen genommen hat, will schließlich Bauzeichnerin werden, nur noch mit Zahlen, Linien, Modellen zu tun haben. Er dagegen, der in einem Amt gearbeitet hat, mit Vermessung befasst war und eine emotional eher erkaltete Beziehung geführt hat, bis ihm all die fehlende menschliche Nähe das Herz ruiniert hat, will nun ein Teil der Dorfgemeinschaft werden.
„Erst jetzt begreife ich, wie sehr ihm das alles gelegen kommt. Einbringen wollte er sich ja. Etwas in Bewegung setzen. […] Er sehnt sich nach Austausch. Er will nichts mehr vermessen, keine Kommastelle sehen. Der Städter braucht keine Ergebniswerte mehr. Er hat die lila Wolkenträume eines Irren. Für Maß und Ziel ist er verloren.
Bei mir verhält es sich umgekehrt, denke ich und trinke einen großen Schluck. Das Soziale soll mir vom Leib bleiben, das Menschliche möglichst still sein. Baupläne und Grundrisse möchte ich zeichnen, mit der Schublehre Maß nehmen. Ich werde alles genau wissen, er wird in den Wolkentraum schauen. Ich werde planen, er spinnen. Wir werden sehen, wer am Ende gewinnt.“ (S. 138)
Und auch hier steckt das Dorf tiefer in Julia, als sie weiß: Auch sie kann Pläne, die ihren eigenen nicht entsprechen, nur für „Spinnerei“ halten. Auch ihr geht es, wie dem Vater, darum, am Ende zu triumphieren. Freilich: Mit seinen Plänen und der Suche nach seinem individuellen Platz im Leben droht Oskar, der Städter, Julia ihre Individualität und ihren eigenen Weg zu nehmen – da ist ihre Wut berechtigt und nachvollziehbar. Und doch zeigt es, wie destruktiv eingefahrene Rollen für beide Geschlechter sind: In einer Gemeinschaft, in der gar nicht erst darüber gesprochen wird, was der jeweils andere will, weil jeder davon ausgeht, dass der andere ohnehin die vorgesehene Rolle übernimmt, sind alle auf feste Rollen festgelegt. Die Frauen entkommen ihren Rollen als Mütter und Ehefrauen nicht. Die Männer entkommen ihren Rollen aber genauso wenig, so sehr, dass sie sich für diese Rollen symbolisch ein Bein abhacken würden.
Es ist wie mit dem eingangs erwähnten Gestank im Dorf: Nicht jeder nimmt ihn gleich wahr, wie nicht jeder die Fesseln, die die Menschen sich hier gegenseitig anlegen, gleich wahrnimmt. Die Quelle für beides liegt gut versteckt: unter Scham, Faulheit, Gewohnheit.
„Wovon wir leben“ erzählt in einer reduzierten, aber gerade darum sehr poetischen Sprache, in der wirklich jedes Bild trifft, nichts abgegriffen ist, nichts flach ist, tatsächlich von dem, wovon wir leben: Von Arbeit, Liebe, Familie, sozialer Gemeinschaft. Dabei stellt der Roman immer wieder die Frage, wie viel und welche Form davon unterschiedliche Menschen brauchen, um frei leben zu können. Und wem das Ende von diesem Roman nicht irgendwie wirklich ein bisschen das Herz bricht, hat vermutlich einfach keins, ich sage hier nur, wie es ist.