Ein Gastbeitrag von Fabian Wolff
Der folgende Text ist im Zusammenhang mit diesem Kritikergespräch von Fabian Wolff in der Sendung „Lesart“ des DLF Kultur entstanden.

Durch soziale Netzwerke schweben manchmal Zitate unklarer Herkunft über die hehren Ziele von Literatur, wie “Bücher sind eine Empathiemaschine” oder “Kunst hat das Ziel, dass wir uns weniger allein fühlen”. Das sind grobe Verallgemeinerungen, nah am Kitsch und ästhetisch unbekümmert. Gelegentlich gibt es aber doch Romane, die sie fast unerwartet mit Leben füllen. “Mr. Loverman” von Bernardine Evaristo, der nach 10 Jahren auch in Deutschland erscheint, ist so einer.
Seinem Ziel – den Perspektiven seiner Figuren in ihrer Gänze gerecht zu werden und so etwas über Glück und Unglück zu erzählen – nähert sich der Roman so vorsichtig wie der Erzähler Barry nachts in sein Haus in London schleicht, um seine Ehefrau nicht zu wecken. Er ist Mitte 70 und immer noch eine imposante Erscheinung. “Früher haben mir die Leute gesagt, ich seh aus wie der junge Sidney Poitier. Heute sagen sie, wie ein (etwas) älterer Denzel Washington. Was soll ich da groß widersprechen? Tatsachen sind Tatsachen.”
Wegen dieser Strahlkraft und häufiger Abwesenheit glaubt seine Ehefrau Carmel, dass Barry sie seriell mit anderen Frauen betrügt. Das tut er auch, aber nicht seriell, und nicht mit anderen Frauen. Schon seit “der Insel”, Antigua, ist Barry in einer heimlichen Beziehung mit Morris. Ihm ist er, vor allem zur Vermeidung tuschelnder Fragen mit Carmel verheiratet, bis nach England gefolgt. Als der Roman 2010 einsetzt, spitzt sich diese über sechzig Jahre währende wahre Liebe überraschend zu. Als Carmel ihren Ehemann ohrfeigt, beschließt dieser endlich sein wahres Leben zu leben.
Als Ich-Erzähler ist Barry einnehmende Gesellschaft: witzig, giftig, aber bei allem natürlichen Selbstbewusstsein zur Selbstkritik fähig, und glühend in seinen Morris verliebt. Evaristo vermeidet jedes Klischee der weisen Queen oder des tragischen alten schwulen Mannes. Immer schwingen die sozialen, psychologischen und kulturellen Zustände mit, die jemanden wie Barry zwingen, sich gleich mehrere Schutzschichten aufzubauen.
All das wäre, auch wegen der Sprache, die mit großer Leichtigkeit über ihre eigene Dichte tanzt, schon anregend genug. Doch Evaristo erzählt in Zwischenkapiteln auch Carmels Geschichte, lyrisch fragmentierter und trotzdem starrer. Ein junges Mädchen mit klaren Vorstellung von Ehe und ihrer Rolle darin, die ihren Schwarm heiratet und sich damit ihr Leben verbaut, dann eine reife Frau, die nicht die gelegentlichen Möglichkeiten ergreifen kann, sich ein neues Leben aufzubauen. Und eine migrantische Schwarze Mutter, die in London wie ihr Ehemann hart dafür arbeitet, dass ihre beiden Töchter es besser haben sollen.
Evaristo hat gestanden, dass erst ihr Verlag sie dazu gebracht hat, auch Carmels Perspektive abzubilden. Durch den Kontrast dieser beiden Stimmen hebt sie ihre Geschichte von einer charmanten Erzählung über das Glück und seinen Preis in eine auf fast bescheidene Weise profunde Auseinandersetzung mit Männlichkeit und Weiblichkeit, den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Liebe, Schwarzen britischen Generationskonflikten und Religion als Gefängnis und Trost.
Evaristo schreibt als Fortsetzung von und in Antwort auf Sam Selvon und Buchi Emecheta. Die Sprache ist angefüllt mit Kreol, Patois, Zitaten aus afroamerikanischer Musik und Shakespeare,. Das macht Evaristos Roman zu einer Reflexion jener afrodiasporischen Kultur zwischen Afrika, Amerika, England und der Karibik, die der Kulturwissenschaftler Paul Gilroy “Black Atlantic” nennt. Aber die Figuren sind keine Sammlungen von soziokulturellen Einflüssen: “England hat Carmel ruiniert”, sagt Barry. “Barry hat mich ruiniert”, sagt Carmel.
Übersetzerin Tanja Handels hat ihren Arbeitsprozess, dieses Geflecht ins Deutsche zu bringen, in einem Onlinejournal festgehalten. sie spricht von einer “sanften Markierung”, wo das Original Syntax und Vokabular häufiger der Umgangssprache anpasst. Das muss eine Notlösung bleiben, die dem poetischen und emotionalen Effekt des Originals letztlich nicht nahe kommt, und das, mit Blick auf konkrete Entscheidungen, sogar öfter als notwendig. Musikliebhaber Barry spricht im Original einfach von “Shirley”, in der Übersetzung fügt er “Bassey” hinzu, was die selbstverständliche Nähe zur großen britischen Schwarzen Diva seiner Generation zerstört, und damit eine ganze Reihe an emotionalen und kulturellen Resonanzen.
Das ist der große Widerspruch der Rezeption gerade Schwarzer Literatur in Deutschland: die behaupete sensible Einbettung orientiert sich letztlich doch nur am Blick der weißen Mehrheit. So wird dieser Literatur die Möglichkeit genommen, für sich und zu sich selbst zu sprechen. In ihrem Journal behauptet Handels dann auch noch, dass es “kein historisch gewachsenes ‚Black German‘ gibt”, wo es doch eigentlich heißen müsste, dass es bisher einfach noch nicht aufgeschrieben wurde, oder werden durfte.
Die emotionale Erfahrung von “Mr. Loverman” bleibt von diesen hemdsärmeligen Misstönen unberührt, aber sie müssen angesprochen werden. Nicht umsonst ist dem Roman das Baldwin-Zitat “Nicht alles, dem man sich stellt, lässt sich auch ändern, aber nichts lässt sich ändern, wenn man sich ihm nicht stellt.” vorangestellt, das als Motto für eine ganze Reihe von Freiheitskämpfen dient.
Das gilt auch für die Figuren des Romans, die in allem Redefluss oft nicht das sagen, was sie eigentlich sagen wollen. Die Hoffnung dahinter muss heute noch härter erkämpft werden als 2013, vor Brexit, Grenfell Tower und Windrush-Skandal. Der leise Optimismus des Romans ist deswegen fast schmerzhaft – und gleichzeitig eine Erinnerung daran, wofür es sich zu kämpfen lohnt.
Bernardine Evaristo
Mr. Loverman
Roman
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Tropen 2023, 336 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag ISBN: 978-3-608-50489-7
Danke mal wieder, wäre an mir vollkommen vorbei gegangen, jetzt auf keinen Fall. LG, Bri