„Fiktionale Erwartungen erzeugen eine Art von Parallelrealität – eine imaginierte Zukunft. Imaginationen der wirtschaftlichen Zukunft beinhalten Annahmen zur Rentabilität von Investitionen, Prognosen zu technologischen Entwicklungen, Bewertungen der Ausfallrisiken von Finanzanlagen und die Vorwegnahme der Befriedigung durch ein Konsumgut, das noch nicht gekauft worden ist. Obwohl sie fiktional sind, rechtfertigen und legitimieren diese Imaginationen Entscheidungen und beeinflussen damit die kommenden wirtschaftlichen Prozesse. Die einzige Voraussetzung dafür ist, dass sie glaubwürdig sind“, (S. 324)
resümiert Jens Beckert in seiner 2018 in deutscher Übersetzung von Stephan Gebauer erschienen Untersuchung „Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus“. Das kapitalistische Wirtschaftssystem fußt, insbesondere seit dem Ende des Goldstandards, auf möglichst plausiblen Vorstellungen von der Zukunft, auf Fiktionen.
Und von solchen Fiktionen und ihren Dynamiken in Vergangenheit und Zukunft erzählt Theresia Enzensberger in ihrem zweiten Roman „Auf See“ ziemlich gewitzt mit Mitteln der literarischen Fiktion. Das sind mir im Grunde schon jetzt zwei bis drei Metaebenen zu viel, aber da müssen wir jetzt alle durch. Im Folgenden werde ich auch schön viel spoilern, also wer das nicht möchte, sollte an dieser Stelle noch den Hinweis mitnehmen, dass das ein lesenswertes Buch ist, und diesen Beitrag ansonsten nicht mehr weiterlesen.
Für alle anderen geht es hier weiter: Die Handlung des Romans ist grundsätzlich in einer nahen Zukunft verortet, in der nicht nur der Klimawandel fortgeschritten zu sein scheint – zumindest gibt es Schnee im Juni, mehrfach wird von der Zunahme von Extremwetterlagen berichtet –, sondern auch die Schere zwischen Arm und Reich deutlich weiter geöffnet ist: Einen Mittelstand gibt es im Grunde nicht mehr.
Dies sind die Bedingungen für die Zukunftserzählungen unterschiedlicher Figuren und deren Konsequenzen: Der Roman wird zunächst von zwei Handlungssträngen getragen, in dem einen erzählt die 17-jährige Yada in der ich-Perspektive von ihrem Leben auf einer futuristischen, wenn auch heruntergekommenen künstlichen Insel in der Ostsee, der „Seestatt“. Im anderen wird von Helena, einer Künstlerin in den 30ern, erzählt, die in Berlin lebt. Beide Handlungsstränge werden schließlich zusammengebracht – Yada erweist sich als die Tochter von Helena, die von ihrem Vater Nicholas nach der Trennung auf dessen utopisch-libertäres Inselprojekt mitgenommen worden und dort isoliert und manipuliert worden ist. Ergänzt werden diese beiden Erzählstränge um Kapitel, die sich auf weitere Figuren, etwa Helenas Bruder August, ihre Freundin Kamilla, die irgendwie mit Helena verbundene Sophie und die Parkhüterin Agnes fokussieren – und um mehrere Kapitel jeweils mit der Überschrift „Archiv“, die im Sachbuchstil von unterschiedlichen kapitalistischen (Insel-)Utopien in der Vergangenheit berichten, die die erzählten Utopien im Roman jeweils historisch kommentieren und die wiederum ein fiktives Kunstprojekt von Helena darstellen.
So weit, so verwinkelt, so spannend konzipiert. Und so vielschichtig bleibt die Konzeption des Romans auch, den man, denke ich, gerade in seiner Vielschichtigkeit ernst- und wahrnehmen muss. Eine gar nicht so unbedeutende Rolle spielt hier tatsächlich jeweils, wie die Figuren die Zukunft beurteilen – und diese Beurteilung hängt mit der Geschichte, sozialen Position und Disposition der Figuren eng zusammen.
Die auffälligste und zentrale Zukunftsvision hat dabei Nicholas, der Vater von Yada und Ex-Partner von Helena. Er geht in nahezu paranoider Art und Weise von einem Weltende aus und entwickelt daraus die Idee der „Seestatt“, die im Grunde Jahrhunderte alte (das machen ja auch die „Archiv“-Kapitel deutlich) utopische Ideen eines durchrationalisierten, effizienten, dafür aber recht unmenschlichen Zusammenlebens auf einer Insel mit laissez-faire-liberalen Ideen verbindet. Zahlreiche der liberalen Gründungsideen – etwa zu politischem und gedanklichem Wettstreit – sind nicht realisiert worden, stattdessen regiert Nicholas sein Inselreich mit eiserner Hand. Die Seestatt ist also mitnichten eine Utopie, sondern ein Ort, der nur auf Basis von Ausbeutung existieren kann: So lebt das gesamte auf der Seestatt arbeitende „systemrelevante“ Personal unter schlechten Bedingungen auf einem heruntergekommenen Mitarbeiterschiff – alle, die dort leben, wurden durch das Versprechen angelockt, selbst einmal auf der Seestatt leben zu können, und sind damit in die Falle getappt:
„Die meisten der Mitarbeiter hatten Verträge unterschrieben, die es ihnen nicht erlaubten, die Seestatt zu verlassen, bevor sie nicht eine abstrus hohe training fee abbezahlt hatten. So waren sie von Anfang an verschuldet, und die Miete für ihre winzigen Quartiere auf dem Mitarbeiterschiff sowie eine monatliche Verpflegungspauschale vergrößerten ihre Schuld regelmäßig.“ (S. 237; alle Seitenangaben richten sich nach der eBook-Ausgabe)
Damit dürften allerdings viele der Mitarbeitenden lediglich Not gegen Elend eingetauscht haben, denn so, wie das Leben auf dem Festland geschildert wird, dürfte es dort vielen von ihnen wenig besser ergangen sein: Menschen mit mittleren Einkommen wie die Figur Sophie können sich auf dem Festland keine Wohnung mehr leisten, sondern leben in ihren Autos, sofern sie eines haben – sonst werden sie obdachlos. Die radikal-kapitalistische Utopie ist dem normalen Festland im Grunde lediglich hinsichtlich Überwachung und Unterdrückung einen Schritt voraus.
Und gerade das wird an der Figur Yada erzählt: Die Tochter des Insel-Herrschers Nicholas wächst völlig isoliert von Gleichaltrigen unter strenger Kontrolle ihrer Interessen wie ihres Körpers auf, wobei sich letzteres nicht nur auf Sportprogramme und regelmäßige Biomarker-Tests beschränkt, sondern auch die Verabreichung von Psychopharmaka beinhaltet, von denen Yada gar nichts weiß. Aber: Auch Yada ist nicht nur Opfer, sie dient als Figur nicht nur dazu, negative Aspekte der Insel-Utopie zeigen zu können, sondern sie ist vor allem auch eine privilegierte Figur. Andere Bewohner der Seestatt verstummen in Anwesenheit der „Seestatt-Prinzessin“ (S. 172) in Angst, unliebsame Äußerungen würden durch sie an den Vater weitergetragen werden. Als sie sich auf das Mitarbeiter-Schiff schmuggeln lässt, denkt sie, die Mitarbeiter hätten sie gebraucht, um über ihre Rechte aufgeklärt zu werden und sich gegen das Unrecht, in dem sie leben, zu erheben – womit sie völlig auf die Nase fliegt, denn natürlich hat niemand auf sie gewartet. Und auch später denkt sie immer wieder bei Dingen, die in keinerlei Zusammenhang zu ihr stehen, dass es letztlich im Grunde um sie geht.
Und wie eben gerade die privilegierten Figuren in ihrer Doppelbödigkeit vorgeführt werden, das ist an diesem Roman schon wirklich ziemlich stark: Gerade Helena, Yadas Mutter, ist nicht nur chaotische Künstlerin und Opfer ihrer Depressionen und ihres Ex-Partners, der ihr das Kind entrissen hat, sie ist nicht nur einfach die reflektierte Figur, die Nicholas‘ Neoliberalismus durchschaut, sondern sie ist gleichzeitig eine Figur, die völlig unüberlegt – und das macht es ja nur bedingt besser – von diesem Neoliberalismus profitiert: Ganz analog zu Nicholas mit seiner Seestatt gründet Helena als Kunstprojekt eine neoliberale Sekte, von der sie – und hier übt der Roman, wie an einigen anderen Stellen auch, auch Kritik am Kunstmarkt – als Künstlerin schließlich massiv profitiert, nur um die Menschen, die sie da zusammengeschart hat, dann einfach fallen zu lassen. Nicht umsonst wird ihr von Sophie, einem ehemaligen Mitglied dieser Sekte, vorgeworfen, Menschen für ihre Zwecke ausgebeutet zu haben. Sie spielt mit den Zukunftsängsten von Menschen, ohne zu reflektieren, dass sie das tut, weil sie selbst keine Zukunftsangst kennt. Ihr Blick auf politische Arbeit ist zynisch, für echtes Engagement ist sie auch zu faul – im Grunde will sie ihre Ruhe und geht mit gutem Grund, denn das ist Ausdruck ihrer privilegierten, reichen Position in der Gesellschaft, davon aus, dass ihr ohnehin nie etwas Schlimmes passieren wird. An einen Weltuntergang glaubt sie folglich nicht, weder für sich, noch für andere, auch hier ist es also eine Zukunftserzählung, die Denken und Handeln einer Figur bestimmt, die es gewohnt ist, dass andere ihr ihre Probleme abnehmen und in deren Denkhorizont etwas anderes auch gar nicht vorkommt.
Da sind auch August, Helenas Bruder, und Kamilla, ihre beste Freundin, wenig besser, beide betreiben letztlich Engagement als Selbstverwirklichung und sind dabei blind für reale Probleme und Strukturen, auch wenn August hier noch ein wenig mehr Durchblick hat. Gerade Kamillas Denken wird aber im Roman wirklich auch so schön trocken-ironisch karikiert, dass ich gar nicht weiß, wie man an solchen Passagen keine Freude haben kann:
„Natürlich wusste Kamilla, wie privilegiert sie war, und sie wusste auch, das zu betonen, bevor sie online die neoliberale Biopolitik, die Repression marginalisierter Gruppen, die subtilen Formen des Neokolonialismus oder die Interpellationen des Menschen als Konsument beklagte. Wenn jemand das performative Wesen von Aktivismus auf Social Media anmahnte, fühlte sie sich immer mitgescholten, besann sich dann aber wieder auf ihre Gewissheiten: Es gab absolut nichts auf dieser Welt, was nicht performativ war“. (S. 345)
Diesen privilegierten, doppelbödigen Figuren, die soziales und politisches Engagement im Grunde immer nur spielen, weil sie wissen, dass sie im Zweifelsfall immer in eine eigene Wohnung zurückkönnen, steht mit der Nebenfigur Agnes die einzige durchweg positiv gezeichnete Figur gegenüber: Sie wohnt im Berliner Tiergarten, in dem sich zur Handlungszeit des Romans eine riesige Zeltstadt befindet, in der Wohnungslose leben. Ihr Denken und Handeln ist pragmatisch und realistisch, Ideologie und Utopien sind ihr fremd.
Entsprechend sieht sie es als Gefahr, als Yada mit ihrer Familie, also Helena, August und Kamilla, bei ihr auftaucht, um sich in der Zeltstadt vor einer vermeintlichen Verfolgung durch Nicholas, die dann gar nicht stattfindet, zu verstecken. Agnes weiß: Die Hütten, die August und Kamilla bauen, bringen die ganze Zeltstadt in Gefahr, weil sie den Eindruck erwecken, dass hier aus der vorübergehend geduldeten Zeltstadt etwas Dauerhaftes werden soll. Sie weiß im Gegensatz zu Yada und ihrem Anhang, die allein um die eigene eingebildete Gefährdung durch Nicholas kreisen, dass die wahre Gefahr genau solche Leute wie Kamilla, Helena und August sind, die die Zeltstadt zu einem hippen Ort machen – oder schlimmer noch: Spekulanten.
„Die Techfirmen würden übernehmen, aus der ‚Brache‘ eine Investition machen und die Fläche entweder mit quadratischen Häusern übersäen oder in einen halbprivaten Lustgarten verwandeln, wie ihre Vorfahren des viktorianischen Bürgertums besessen von der Selbstoptimierung durch frische Luft.“ (S. 328)
Und genau diese Gefahr wird sich bewahrheiten und August wird sich genau dieser Gefahr bedienen, wenn auch mit dem Wunsch, um sie zu verhindern. Ob ihm das gelingt oder ob er die Lage der Zeltstadt, dieser Utopie küchenkommunistischen Zusammenlebens in Tiny-Houses, die Kamilla, August und Yada hier sehen wollen, wo in Wahrheit ganz real schlichtweg Armut herrscht, zusätzlich verschlimmert, lässt der Roman offen.
Am Ende des Romans steht die Skepsis gegen jede Form der Utopie und der gängigen großangelegten Gesellschaftskritik: Die Seestatt ist von vorn herein negativ konnotiert, ebenso wie Helenas libertäre Sekte. Aber am Ende wird Helena als Künstlerin mit ihrem Archiv, das Kritik am Neoliberalismus übt, wieder Geld verdienen und Prestige gewinnen, künstlerischer Widerstand ist so sehr Teil des Systems wie auch der Versuch, ganz pragmatisch in einer Zeltstadt zu leben, in diesem System zum Scheitern verurteilt ist. Am Ende steht eine privilegierte junge Frau mit reichen Eltern, die in ihrem Auto durch die Welt fährt, um diese zu entdecken, eine futuristische Rucksacktouristin. Alles bleibt, wie es ist: Die Reichen haben ein Zuhause, das sie nach Belieben verlassen können, weil sie dorthin zurückkehren können. Den Armen wird auch der Ort genommen, den sonst keiner gewollt hat.
Man kann „Auf See“ schon ein paar stilistische Vorwürfe machen: Manche kritische Anmerkung über etwa die Kunstwelt (vgl. S. 88-90) ist so zu wenig auserzählt und zu überdeutlich hingeworfen, einzelne Formulierungen (etwa „Ich blieb stehen und blickte lange auf dieses geräuschlose tableau vivant“, S. 359 – wobei man dazusagen muss, dass derartige Geschwülste häufig aus dem Mund von Yada kommen und auch der Figurencharakterisierung dienen) sind zum Augenrollen und wenn Helenas Sekte sich dann plötzlich im Hintergrund der Handlung einfach aufgelöst hat und so eine Handlungslücke ein erzählerisches Problem löst, finde ich das doch ein bisschen zu einfach.
Dafür gibt es aber eben auch so wahnsinnig witzige Stellen, eben etwa die oben zitierte Darstellung von Kamillas politischem Denken, oder etwa Yadas psychologische Selbstdiagnose:
„Aus dem Kopf betete ich mir die relevanten Stellen aus dem ‚Leitfaden psychischer Störungen‘ vor und diagnostizierte mir selbst eine posttraumatische Belastungsstörung.“ (S. 315)
Wer schon mal ein paar Minuten im Internet war, weiß, dass hier durchaus gängige Praktiken karikiert werden und das geschieht hier schon gekonnt, da wie nebenbei.
Im oben zitierten Buch von Jens Beckert schreibt dieser: „Die Dynamik des Kapitalismus wird nicht durch kapitalismuskritische Utopien unterbrochen, weil diese immer wieder assimiliert werden. Aber eine schwindende Attraktivität der Zukunft, ein Verlust der strukturellen Voraussetzungen für die Bereitschaft, sich auf ungewisse Entscheidungen einzulassen oder die Kolonisierung der Gegenwart durch frühere Verpflichtungen können den Weg in eine wirtschaftliche Zukunft versperren, die neue Wirtschaftsformen hervorbringt. Die Folge sind eine Verlangsamung des Wachstums und Wirtschaftskrisen.“ (S. 427)
In einer Zukunft, in der es genau zu dieser Situation gekommen ist, ist Enzensbergers „Auf See“ situiert. Kapitalismuskritische Utopien, ob in der Kunst oder in Form einer Zeltstadt, werden von ihm assimiliert, aber auch turbokapitalistische Utopien kommen unter die Räder. Am Rande erwähnt werden im Roman soziale Unruhen – eine neue Wirtschaftsform ist jedoch noch nirgends in Sicht. „Auf See“ ist weniger optimistisch als Jens Beckert, wie es scheint. Der Roman teilt die Skepsis der Figur Agnes gegenüber jeder Utopie: Am Ende muss man sehen, was kommt, und versuchen, pragmatisch und in solidarischer Verbundenheit mit seinen Mitmenschen damit umzugehen. Mehr bleibt nicht. Zumindest im Roman ist keine neue Wirtschaftsform in Sicht. Das ist ernüchternd, aber auch angenehm ehrlich.