Wer feiert 2022 ein rundes Jubiläum?

19. Januar 1892 und 14. März 1942: 130. Geburtstag bzw. 80. Todestag von Maria Leitner

Maria Leitner, Übersetzerin, frühe Vertreterin der Reportageliteratur und Sozialistin, hatte ein bewegtes Leben: Sie musste aufgrund ihrer politischen Einstellung immer wieder Land und Wohnort wechseln,

Maria Leitner

reiste aber auch für literarische Projekte immer wieder. Für ihre journalistischen wie literarischen Texte recherchierte sie vor Ort, nahm am Leben der Menschen, über die sie schrieb, teil und suchte so nach Antworten auf gesellschaftliche Fragen ihrer Zeit. Auch wer ihren Geburtstag lieber nicht feiern möchte, weil sie selbst in den letzten Jahrzehnten ihres Lebens einen Pass verwendete, der ihr Geburtsjahr mit 1893 benennt, kann immerhin noch ihren Todestag begehen, zum Beispiel durch das Lesen ihres berühmtesten Romans „Hotel Amerika“.

21. Januar 1872: 150. Todestag von Franz Grillparzer

Letztes Jahr konnte man seinen 230. Geburtstag feiern, dieses Jahr kann man den 150. Todestag dieses in Österreich wichtigen Schriftstellers, insbesondere Dramatikers erinnern. Wie schon im letzten Jahr würde ich die Lektüre der Novelle „Der arme Spielmann“ empfehlen, das ist wirklich ein sehr schönes Buch.

28. Januar 1942: 80. Todestag von Lessie Sachs

Lessie Sachs - AvivA Verlag

In das kurze Leben der Schriftstellerin Lessie Sachs hat sich die Zeit, in der sie unter widrigen Umständen leben musste, eingezeichnet: Die politischen Aktivitäten – sie war 1919 der KPD beigetreten – musste sie nach einer Haftstrafe und polizeilicher Drangsalierung aufgeben, 1937 war sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft gezwungen, mit der Familie in die USA zu fliehen. Die eigensinnige Lessie Sachs schrieb im Stil der Neuen Sachlichkeit Gedichte und Kurzprosa, die heute dank des Engagements des AvivA-Verlags unter dem Titel „Das launische Gehirn“ zu lesen sind.

8. Februar 1872: 150. Geburtstag von Theodor Lessing

Theodor Lessing – Wikipedia

Theodor Lessing ist in dem Jahr geboren, in dem Granz Grillparzer gestorben ist. Auch wenn die Umstände des Todes des Philosophen Theodor Lessing– er wurde Opfer eines Attentats und gilt als eines der ersten Opfer des Nationalsozialismus aus dem Kreis berühmter Persönlichkeiten – bekannter sind als die seiner Geburt, kann man ja 2022 auch einmal seinen Geburtstag (und eben nicht immer nur den Todestag) nutzen, um an ihn zu erinnern. Seine Philosophie ist eher schlecht gelaunt, eignet sich also gut für die im Februar langsam ihren Höhepunkt erreichende Faschingszeit, einzelne Bände werden nach wie vor bei Matthes & Seitz aufgelegt.

8. Februar 1922: 100. Geburtstag von Erika Burkart

rhetorik.ch aktuell: Die Aargauer Poetin Erika Burkart

Die Schweizer Schriftstellerin Erika Burkart schrieb Gedichte und Prosa und ist wohl hier in Deutschland erst noch zu entdecken, wohingegen sie in der Schweiz als wichtige Vertreterin der Gegenwartslyrik gilt. Der 100. Geburtstag könnte ein guter Anlass sein, diese Lyrikerin endlich zu lesen, zumal die Werke der 2010 verstorbenen Dichterin gut erhältlich sind und sich darin Gedichte finden wie dieses hier:

Die Stille

Vibrierende Stille der Laubnacht,
Stille vor Tag, ihr Klang,
quillt die Sonne empor.
Funkstille vor dem Gewitter
zwischen Menschen, die sich
im Winter liebten.

Nebenan, sagte die Frau in der Stadt,
bohre der Zahnarzt – ich hörte nichts –
und liess die Band Perpetuum spielen,
Musik vertreibe die Zeit.

Sammelt Stille Zeit?
In Kernen, Formeln,
darin sie Nicht-Fassbares
weiterreicht?

Ausgesetzt in die Stille, zählt
das Herz die Zeit, ihm erscheint
das lautlos ruckhafte Schwinden
von Ziffern als Weltuntergang;
im Fenster das Licht von gestern.

Jedermanns Angst, in die Stille zu fallen,
wo kein Herzschlag das Grauen skandiert,
Stille nach uns,
die zum Himmel schreit.

8. März 1922: 100. Geburtstag von Heinar Kipphardt

Heinar Kipphardt - Autoren Berlin/Brandenburg - Literaturlandschaft

Einer der wichtigsten Vertreter des Dokumentartheaters, Heinar Kipphardt, scheint auch mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten, weswegen man anlässlich seines 100. Geburtstags ruhig mal an ihn erinnern kann, etwa durch das Lesen seiner bekanntesten Stücke „In der Sache J. Robert Oppenheimer“ und „Bruder Eichmann“. Wer diese schon kennt, kann sich auch seiner nicht so bekannten Lyrik oder seiner Prosa zuwenden.

17. April 1852: 170. Geburtstag von Ida Boy-Ed

Ida Boy-Ed – Wikipedia

Ida Boy-Ed ist eine Autorin der Jahrhundertwende, deren umfangreiches erzählerisches Werk erst wieder entdeckt werden muss. Warum nicht anlässlich ihres 170. Geburtstags damit anfangen? Etwa mit ihrem Roman „Nicht im Geleise“, der 1889 in der „Gartenlaube“ erschienen ist. Ihre Werke sind leider nur noch als eBooks oder PrintOnDemand erhältlich, aber das hält ja hoffentlich heutzutage niemanden mehr vom Lesen ab.

2. Mai 1772: 250. Geburtstag von Novalis

An diesem Jubiläum wird 2022 wohl auch öffentlich kein Vorbeikommen sein: Der Romantiker Novalis feiert seinen 250. Geburtstag. Wer also endlich den „Heinrich von Ofterdingen“ wirklich lesen will, statt immer nur zu sagen „Jaja, klar, kenn ich, blaue Blume“, der kann das dieses Jahr ruhig mal tun – und an Novalis gibt es in der Tat viel zu entdecken, was auch die Vorurteile des einen oder anderen gegenüber der Romantik zurechtrücken dürfte. Das sind schon schöne Texte.

5. Mai 1982: 40. Todestag von Irmgard Keun

Mit Irmgard Keun ist vor 40 Jahren eine der wichtigsten Autorinnen der Neuen Sachlichkeit gestorben, deren bewegtes Leben ich hier ausführlicher dargestellt habe. Wer noch nichts von ihr gelesen hat, sollte vielleicht mit ihren kanonischsten Werken – „Das kunstseidene Mädchen“ oder „Gilgi“ – anfangen, wer diese schon kennt, macht einfach wo anders weiter, es lohnt sich hier ja wirklich alles, das ist eine große Schriftstellerin.

13. Mai 1992: 30. Todestag von Gisela Elsner

Gisela Elsner: Eine literarische Femme fatale | Bayerisches Feuilleton |  Bayern 2 | Radio | BR.de

Vor dreißig Jahren nahm sich Gisela Elsner, literarisch und sozial isoliert, das Leben. Ganz in Vergessenheit geraten ist sie glücklicherweise nie, wenn sie auch quasi „Geheimtipp“ geblieben ist. Ihr Werk ist gekennzeichnet von ihrem Versuch, sich vom eigenen bürgerlichen Herkunftsmilieu abzugrenzen, dem sie immer wieder kritisch und satirisch den Spiegel vorgehalten hat, etwa in ihrem Roman „Die Riesenzwerge“. Mit diesem Roman, den man nun, da der Verbrecher Verlag die Rechte an ihrem Werk verloren hat, nur noch antiquarisch bekommen wird, kann man 2022 mal anfangen, Elsner zu lesen, sofern man das nicht bereits getan hat – und so ihre literarische Isolation zumindest posthum aufzuheben versuchen.

26. Mai 1842: 180. Todestag von Caroline Auguste Fischer

Auch die vor 180. Jahren verstorbene Caroline Auguste Fischer gilt es erst wieder ins literarische Gedächtnis zu rufen. In Biografie wie Denken war diese Autorin ihrer Zeit weit voraus und zahlte dafür den hohen Preis, den eine Frau eben für Eigenständigkeit in dieser Zeit zahlen musste: Den Schmerz, den die Scheidung von ihrem ersten Mann und der damit einhergehende Verlust des Kindes, das wie üblich dem Mann zugesprochen wurde, verarbeitete sie etwa in ihrem Briefroman „Die Honigmonathe“, in dem sie das Frauenbild ihrer Zeit hinterfragt und die Idee einer Ehe auf Zeit entwickelt.

1. Juni 1942: 80. Todestag von Lili Grün

Lili Grün - AvivA Verlag

Wie im Falle von Lessie Sachs ist es auch bei Lili Grün dem AvivA-Verlag zu verdanken, dass das Werk dieser Autorin weiterhin zugänglich ist und sie somit nicht ganz in Vergessenheit geraten ist. Lili Grün schrieb vorwiegend Prosa, aber auch Gedichte und journalistische Texte im Stil der Neuen Sachlichkeit. 1942 wurde sie im Vernichtungslager Maly Trostinez ermordet. Ihr erster Roman „Herz über Bord“ erschien 1933, stieß auf begeisterte Kritik und wurde ein Erfolg. Eben dieser Roman wird – neben anderen Werken Grüns – bei AvivA nach wie vor aufgelegt und könnte doch 2022 einmal gelesen werden.

1. Juni 1922: 100. Geburtstag von Ruth Rehmann

Ruth Rehmann - Autoren - Hanser Literaturverlage

Auch die Autorin Ruth Rehmann ist hierzulande in Vergessenheit geraten – vielleicht könnte aber ihr 100. Geburtstag ein Anlass zur Wiederentdeckung sein? Rehmann schrieb Hörspiele, kürzere Prosa und Romane. Aus ihrem ersten Roman „Illusionen“ las sie auch auf einem Treffen der Gruppe 47 vor – und da man sich vorstellen kann, wie man dort mit ihr als Autorin umgegangen ist (nämlich nicht so toll), kann man doch schon allein deswegen ruhig mal mit diesem Roman anfangen.

25. Juni: 200. Todestag von E.T.A. Hoffmann

Neben Novalis hat ein weiterer wichtiger Vertreter der Romantik 2022 ein rundes Jubiläum, an das gewiss auch ausreichend öffentlich erinnert werden wird. Natürlich ist aber auch dieser Autor besser als der Ruf, den ihm das notorische Naserümpfen über Schullektüren eingebracht hat. Es macht schlichtweg Spaß, E.T.A Hoffmann zu lesen, wer etwas anderes behauptet, hat nichts von ihm gelesen und sollte damit mal anfangen.

26. Juni 1762: 260. Todestag von Luise Adelgunde Victorie Gottsched

Luise Adelgunde Victorie Gottsched, n e Kulmus, April 11, 1713 June 26,  1762, a German writer in

Da früher das Drama, nicht der Roman die wichtigste Gattung der deutschsprachigen Literatur dargestellt hat, stellt Gottscheds Theaterreform zur Zeit der Frühaufklärung eine wichtige Zäsur in der deutschsprachigen Literaturgeschichte dar. Hier wurde erstmals versucht, ein geordnetes deutschsprachiges Theaterwesen aufzubauen. Gottsched hätte dieses Großprojekt alleine, ohne die Unterstützung seiner Frau Luise Adelgunde Victorie Gottsched, nicht bewältigen können. Während er sich um die Tragödie bemühte, war ihr Bereich die Komödie – und ihr bekanntestes Werk, „Die Pietisterey im Fischbein-Rocke“ löste einiges an Aufregung aus, sahen sich doch pietistische Protestanten darin verunglimpft. Auch an diese so kluge wie witzige Autorin kann man 2022 ruhig einmal denken.

16. September 1992: 30. Todestag von Victoria Wolff

Victoria Wolff

Victoria Wolff ist nun die dritte Autorin in dieser Liste, um die sich besonders der AvivA-Verlag bemüht. Wolff war aufgrund ihrer jüdischen Herkunft gezwungen, in die USA zu emigrieren, wo ihr der Durchbruch als Drehbuchautorin in Hollywood gelang. Bereits lange vor ihrer Emigration hatte sie aber schon in Deutschland begonnen, Romane zu schreiben. Einen ihrer bekanntesten, „Das weiße Abendkleid“, kann man immer noch über AvivA oder btb bekommen und lesen.

17. September 1822: 200. Todestag von Karoline Louise Brachmann

Louise Brachmann

2022 jährt sich der sehr unglückliche Todestag von Karoline Louise Brachmann zum 200. Mal. Es wäre also wirklich ein Anlass, diese Dichterin der Romantik neu zu entdecken. Brachmann war eine Freundin von Novalis, wurde von Schiller, Brentano und Sophie Mereau unterstützt und konnte sich dennoch nicht durchsetzen. Unglücklich, beruflich wie privat, beging sie Selbstmord. In Schillers „Musen-Almanach“ erschienen Gedichte wie:

An die Horen

Schöne himmlische Schwestern, leichte Horen,
Die ihr auf Aetherflügeln Schmerz und Freude
Zu den Sterblichen bringt, und Nacht und Morgen
           Wechselnd heraufführt;
Hört, o Töchter Kronions, mich! so lang noch
Locken der Jugend meine Stirn umkränzen,
Schwebt in ernster Gestalt vor meiner heitern
           Seele vorüber!
Führt mich in der Betrachtung stillen Tempel,
Mildert der Jugend rasche Glut mit ernsten
Bildern, daß ich nicht untergeh’ im Meere
           Heißer Gefühle.
Aber dekt mich des Alters Schnee dann schwebt mir
Lächelnd in sanftem Morgenglanz vorüber.
Dann, o Göttinnen hellt den matten Blick mit
           Rosigen Bildern.

1. Dezember 1722: 300. Geburtstag von Anna Louisa Karsch

Anna Luise Karsch

Eine weitere einst berühmte, heute vergessene Autorin feiert 2022 einen sehr runden Geburtstag: Anna Louisa Karsch. Die zu ihren Lebzeiten durchaus mit literarischen Größen ihrer Zeit vernetzte und bekannte Dichterin ist vorwiegend aufgrund ihres Geschlechts nie kanonisiert worden. An ihrer eigenständigen Natur- und Liebeslyrik liegt das dagegen weniger. Das Gleimhaus Halberstadt bemüht sich um ein angemessenes Begehen des Jubiläums, hoffentlich ziehen noch ein paar andere Institutionen nach.

19. Dezember 1922: 100. Geburtstag von Walter Höllerer

Der Literaturkritiker und Lyriker Walter Höllerer würde seinen 100. Geburtstag feiern. Er war Gründer einer Institution, die bis heute nicht aus dem literarischen Leben wegzudenken ist: Des Literarischen Colloquiums Berlin. Auch die Zeitschriften „Akzente“ wie „Sprache im technischen Zeitalter“ gäbe es ohne Höllerer nicht, daran kann man kurz denken, auch wenn die Frage nach seiner NSDAP-Mitgliedschaft ungeklärt ist und Überhöhung einzelner Personen sowieso nie gut ist. Aber: Es war jemand, der viel losgetreten hat, was bis heute da ist.

20. Dezember 1972: 50. Todestag von Günter Eich

Autorinnen & Autoren

Günter Eichs „Inventur“ kennt vermutlich jeder, der gymnasialen Deutschunterricht besucht und dabei nicht nur geschlafen hat. Im Dezember 1972 kann man sich an den 50. Todestag dieses wichtigen Lyrikers der Nachkriegszeit erinnern. Wie auch bei Höllerer ist bei Eich einiges in Bezug auf sein Verhältnis zum Nationalsozialismus und seine „innere Emigration“ unklar, der eigenen Selbststilisierung sollte man nicht immer glauben. Aber er hat ein paar schöne Gedichte geschrieben, wie man z.B. auch hier nachlesen kann.

[Beitragsbild von Joyce Adams auf unsplash.com]


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