„T.B.D.“ ist unter Risikomanagern ein Kürzel, das für nicht absehbare Risiken steht – „there be dragons“. Es geht zurück auf den Hunt-Lenox Globus, auf dem die Gebiete der damals unbekannten Welt mit der Aufschrift „hic sunt dracones“ – „hier sind Drachen“ – versehen worden sind. Auf anderen frühen Karten zeichnete man in der Regel Ungeheuer in die nicht erforschten Gebiete der Welt ein. Diese Gebiete zu bereisen barg Risiken, die man nicht absehen konnte. Drachen zum Beispiel. Vielleicht.
Auf diese Formulierung spielt der Titel von Katerina Poladjans neuem Roman „Hier sind Löwen“ deutlich an – der Satz „Hic sunt leones“ fällt sogar mehrfach, wird jeweils von einem Freund der Ich-Erzählerin ausgesprochen, schließlich sogar mit dem Ziel, die Löwen in den unbekannten Gebieten, den ländlichen anatolischen Gebieten, zu vertreiben. Und davon erzählt dieser bemerkenswerte, ganz ruhig und bescheiden geschriebene Roman: Von Menschen, die sich aus unterschiedlichen Gründen auf nicht absehbare Risiken einlassen, unbekannte Gegenden bereisen, um schließlich die Löwen dort zu verabschieden.
Und gerade weil der Roman eben keine Spur von Pathos, Sentimentalität oder protzenden, komplizierten Formulierungen enthält, weil der einfach in einer schlichten, klaren, gelungenen Sprache gehalten ist, beeindruckt der umso kunstfertigere Aufbau noch mehr: Der Roman erzählt nicht nur die Geschichte einer Ich-Erzählerin, einer deutschen Buchrestauratorin mit armenischer unbekannter Verwandtschaft mütterlicherseits, die in die armenische Hauptstadt Jerewan ans Matenadaran reist, um dort eine Handschrift zu restaurieren und die komplizierte armenische Buchbindetechnik zu erlernen. Die Autorin verwebt diese Geschichte mit zahlreichen anderen, insbesondere mit der zweier armenischer Kinder, die um 1914/1915 durch den Völkermord an den Armeniern ihr Zuhause verloren haben und alleine fliehen mussten, aber auch mit den Geschichten von anderen armenischen Familien, mit der Geschichte der Kurden, mit der Geschichte der Familie der Erzählerin, mit antiker Mythologie und vor allem auch mit der Gegenwart. Der Roman selbst scheint entsprechend der komplexen armenischen Buchbindetechnik aufgebaut, unterschiedliche Fäden werden verbunden zu einer tragenden Erzählung. Und so bemerkenswert wie dieser Aufbau ist die Tatsache, dass er den Roman eben nicht beschwert.
Man liest hier nicht nur von der Geschichte und Gegenwart Armeniens, von der Bedeutung von Schrift und Büchern in der armenischen Geschichte, man liest auch von aktuellen Konflikten zwischen Türken und Armeniern und Kurden, von Konflikten zwischen den zahlreichen Diaspora-Armeniern und den in Armenien Lebenden, von den vielen jungen Armeniern, die das Land verlassen, von der Situation der Armenier im Syrien-Krieg, von den Problemen von Wissenschaftlern in der heutigen Türkei, von Traumata, die vererbt werden. Der Roman ist viel mehr als ein Roman, er ist viele Romane in einem. Und er schlägt scheinbar mühelos immer wieder den Bogen zwischen Geschichte und Gegenwart, überformt das alles noch durch mythologische Versatzstücke, als wäre da gar nichts dabei.
Der Anlehnung des Aufbaus an der armenischen Buchbindetechnik entsprechend ist tatsächlich das Buch auch das Rückgrat des Romans: An der Handschrift, die die Ich-Erzählerin restauriert, wird ihre Geschichte und Gegenwart erzählt, aber auch die der armenischen Kinder um 1914/1915. Es handelt sich dabei um eine Jahrhunderte alte Familienbibel, ein Heilevangeliar. Eine Kollegin sagt zur Erzählerin: „Armenische Handschriften waren Teil der Familie. Haben Sie schon im Kolophon gelesen? Hischatakaran nennen wir das Kolophon, übersetzt heißt das Gedächtnis“ (S. 59)
Im Kolophon, einem von den Besitzern der Bibel fortgeführten Schriftstück am Ende der Bibel, trugen die Besitzer ihre Namen und Geburtsorte, aber auch Fürbitten und andere Dinge ein. Durch diese Zusätze, die über Generationen erweitert wurden, da die Bibel in der Familie immer weiter vererbt wurde, lässt sich die Geschichte des Buches und damit aber eben auch die Geschichte der Familie rekonstruieren. Darum bemüht sich die Erzählerin. Doch nicht nur das Kolophon ist ihr ein Hinweis, sondern auch die anderen Spuren, die die Zeit im Buch hinterlassen hat:
„Je länger ich an dem Buch arbeitete, desto größer wurde meine Scheu, mein Unbehagen, die Seiten zu berühren. Ich hatte Angst, das Buch zu verletzen. Jede amorphe Stelle, jeder Bruch, jede versehrte Zeichnung ließ mich innehalten. Alles sollte so lange wie möglich unscharf bleiben. Welche Spuren würde ich verwischen oder zum Verschwinden bringen? Ich pflegte Leerstellen, starrte eine Seite an, von der fast ein Drittel fehlte, die farbigen Risskanten ließen vermuten, dass hier Miniaturen ausgerissen worden waren. Ich rührte den Weizenstärkekleister, bis er wieder kalt und unbrauchbar war.“ (S. 51)
Und tatsächlich nutzt Poladjan diese Beschädigungen im Buch, um von den beiden Kindern zu erzählen, die die Familienbibel auf ihre Flucht mitgenommen hatten. Über dieses Buch verbindet sie die Erzählstränge. Dass die Kinder das Buch mitgenommen haben, verwundert nicht, scheinen doch Bücher in der armenischen Kultur nahezu ein Eigenleben geführt zu haben, man glaubte wohl lange an die Heilkraft eines solchen Evangeliars und legte es Kranken unter das Kopfkissen, und noch heute scheint man, wenn man dem Roman Glauben darf, dem aus dem 6. Jahrhundert stammenden Etschmiadsin-Evangeliar als ältester erhaltener Handschrift eine große Wertschätzung entgegen zu bringen.
Doch „Hier sind Löwen“ ist, wie bereits geschrieben, nicht nur ein Buch über Geschichte und Gegenwart und die Macht der Bücher, zwischen beiden eine lebendige Verbindung herstellen zu können. Es ist auch die Geschichte einer frühen Emanzipation: Anahid, das ältere der beiden flüchtenden Kinder, befreit sich im Laufe der Flucht aus den patriarchalen Strukturen, in denen selbst ihr sehr viel jüngerer Bruder Hrant sie schlecht behandeln und ihr die Schuld an der Situation zuschreiben kann. Sie entscheidet sich für eine selbstgewählte Identität, für einen eigenen Weg.
Es ist auch die Geschichte einer großen Liebe – die Ich-Erzählerin verliebt sich in Levon, dessen Name nicht zufällig das armenische Wort für „Löwe“ ist. Auch er bringt für die Erzählerin nicht absehbare Risiken mit sich. Er ist ihr ähnlich – und verändert sie vielleicht gerade deswegen. „Ich verliere mich“ (S. 205), sagt sie Levon als Begründung, als sie versucht, sich von ihm zu trennen.
Und es ist die Geschichte der Farbe „rot“, insbesondere des Purpur. Der Mythos um die Farbe wird schon früh in die Erzählung eingespielt: Als ein Hund, der der Nymphe Tyros stets folgt, eine Purpurschnecke frisst, färben sich seine Lefzen purpurrot – die Farbe gefällt Tyros so gut, dass sie von Herakles ein Kleid in dieser Farbe fordert. Als sie es bekommen hat, ist die, laut Poladjans Fassung, nach wie vor nicht ganz glücklich, denn die Farbe riecht säuerlich. Auch diese Farbe bringt also ein nicht absehbares Risiko mit sich – trotz ihrer Schönheit. Und beiden zentralen weiblichen Figuren im Roman begegnen später Hunde mit roten Lefzen (S. 228, S. 285). Der Roman ist also, trotz aller klar erkennbaren Recherchearbeit, die im Hintergrund steht, und trotz aller historischen Genauigkeit, eben auch Fiktion, auch Mythos. Auch daraus, auch aus der genauen Arbeit mit Motiven, speist sich die Stimmung dieses Romans, etwas Aktuelles und trotzdem zugleich etwas Uraltes zu erzählen. Dass sich die Figuren schließlich von diesen Hunden abwenden oder aber dass die Hunde sie schließlich nicht mehr beachten, ist vielleicht ein Zeichen dafür, dass die Löwen, die nicht absehbaren Risiken, schließlich doch überstanden sind. Sie haben sich nicht in anderen verloren. Denn:
„Der Mensch war gut, nur manchmal vergaß der Mensch, dass er gut war.“ (S. 284)
Aha, dann muss ich wohl noch mal weiterlesen. Ich habe das bisher alles nicht entdeckt. Und die Liebesgeschichte finde ich allzu vorhersehbar. Aber gut, ich habe ja nur ein Drittel gelesen und dann weggelegt.
Danke für den Buch-Hinweis und auf das Kolophon.