Gerd Koenen – Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus

51dW6d8oydL__SX322_BO1,204,203,200_Gerd Koenen hat mit „Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus“ in zweierlei Hinsicht ein aktuelles Buch geschrieben: Nicht nur deswegen, weil es das für den Beck-Verlag ganz typische Historien-Lehnstuhlbuch (wie ein mit mir befreundeter Historiker solche Bücher so nett nennt) passend zu den Jubiläen der Oktoberrevolution 1917 und der 1968er ist, das man dann zu Weihnachten historisch interessierten Lehnstuhlbuchlesern gut schenken kann, sondern weil es auch in eine nach der Bundestagswahl 2017 landläufige Diskussion passt: Woher kommen die Unterschiede im Wahlverhalten zwischen ehemaligen Ost- und Westdeutschen? Angenommen wird ja in zahlreichen Artikeln größerer Leitmedien, dass diese Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland nicht nur in den nach wie vor vorhandenen ökonomischen Differenzen, sondern eben auch in der jeweiligen Geschichte und also anders gewachsenen politischen Sozialisation der Bevölkerung zu suchen sind.

Und bekanntlich ist die Geschichte Ostdeutschlands ja nun wesentlich geprägt durch die Zeit realsozialistischer Diktatur zu DDR-Zeiten, und also durch eben das politische System, mit dem Gerd Koenen sich in „Die Farbe Rot“ erneut (es ist ja sein Dauerthema) auseinandersetzt. Koenen will dabei auf mehr als 1000 Seiten eine umfassende „Weltgeschichte“ des Kommunismus von der Antike bis zum heutigen modernen China mit seiner spezifischen Kombination aus politischem Sozialismus und ökonomischem Kapitalismus erzählen. Da das Vorhaben damit sehr umfangreich und materialintensiv ist, setzt Koenen nachvollziehbarerweise Schwerpunkte: Er konzentriert sich bei dem Nachzeichnen der Entstehung kommunistischer Theorie auf den europäischen Raum und dessen Kulturgeschichte, da nun eben die zentralen Denker des Kommunismus Europäer waren, und nimmt dann bei der Darstellung realsozialistischer Geschichte vor allem Russland und nebenbei auch China in den Blick.

Herausgekommen ist dabei ein sehr interessantes, zudem auch sehr gut lesbares Sachbuch, dessen Genauigkeit und aufwändige Materialdarstellung wirklich bemerkenswert ist. Allerdings liegt aber genau in dieser Anlage auch ein bisschen die Krux von „Die Farbe Rot“: Es wurde eben zum Kommunismus, zum Frühsozialismus, zu China (das ohnehin nur in einem Kapitel abgehandelt wird) schon viel geschrieben, wenn man sich damit schon einmal befasst hat, dann bietet dieses Buch leider nicht wahnsinnig viel Neues. Auch die Rückführung kommunistischer Ideen auf frühe Mythen und religiöse Ideen ist ja nicht eben eine Erfindung Koenens, das ist ja alles schon lange common sense linker Theorie-Geschichtsschreibung, auf die Koenen ja deswegen auch mit gutem Grund Bezug nimmt. Das Verdienst dieses Buches liegt also eher darin, wirklich alles noch einmal zusammenzubringen, und es ist damit vielleicht vor allem für Leser*innen interessant, die sich bislang mit der Geschichte kommunistischer Theorie und des Realsozialismus noch nicht so sehr viel beschäftigt haben. Für alle anderen bleibt es eben zu bedauern, dass die Geschichte des Realsozialismus nach Lenin nur ein Fünftel dieses Buches einnimmt, dass China nur in einem Kapitel dargestellt und alle anderen Länder neben Russland und China, in denen versucht worden ist, Sozialismus real umzusetzen (Vietnam, Korea, Ungarn, Rumänien, Albanien etc.etc.) höchstens am Rande erwähnt werden. Von einer „Weltgeschichte“ kann hier also keine Rede sein, auch wenn Koenen den Begriff eben so umdefiniert, dass er eigentlich damit eine Kombination aus Ideen- und Ereignisgeschichte meint. Aber dann hätte er das Ganze ja auch so nennen können, es gibt die entsprechenden Fachbegriffe ja.

Hinzu kommt, dass Koenen mitunter, gerade wenn er antike Mythen und Schriften darstellt, aber auch wenn es etwa um die Geschichte der frühen Neuzeit und um Gestalten wie Thomas Müntzer geht, deren Rezeption mit ihrer Intention gleichsetzt (zum Teil, beispielsweise was Müntzer betrifft, vielleicht auch unbewusst: Warum Luther Obrigkeitshörigkeit vorgeworfen wird, bei Müntzer, der sich nicht minder der Obrigkeit anzudienen versuchte, aber das apokalyptische Denken, das ja auch Luther prägte, in Rechnung gestellt wird, ist nicht so recht nachzuvollziehen): Weil diese Mythen und Figuren von Vertretern des Realsozialismus oder von Anhängern marxistischer Theorie als kommunistische Vordenker vereinnahmt worden sind, müssen diese eben noch lange nicht genau das gewesen sein. Diese Spannung aufzuzeigen gelingt Koenen nur bei der Dekonstruktion des Konzepts der (kommunistischen) Urhorde, die er als historisch-ethnologischen Wunschtraum enttarnt, an anderen Stellen wird dieser Bruch zwischen Rezeption und Intention nicht klar genug herausgearbeitet. Oft wird schlicht zu viel Material rein anekdotisch referiert, es fehlt – und das ist vielleicht der zweite gravierende Kritikpunkt, den ich hier habe – an deutlicher Systematisierung des Materials und an klar formulierten Thesen. So erschlägt Koenen zwar seinen Leser mit Material, sorgt aber eben nicht dafür, seine eigene Konstruktion kommunistischer Geschichte so transparent zu machen, dass diese auch diskutierbar wäre. Man fragt sich schlicht zu oft, nach welchen Kriterien nun eigentlich die Schwerpunkte und das Material ausgewählt worden sind und was Koenen damit zeigen möchte und wünscht sich mehr Mut zur Thesenbildung und Materialbündelung. Denn auch wenn das erklärte Ziel des Buches ist, eben nicht zu „urteilen“ und zu bilanzieren, sondern „nachvollziehendes historisches Verstehen im Sinne eines ‚making sense‘“ (S. 1033) herzustellen, muss sich der Autor doch die Frage gefallen lassen, ob er denn wirklich glaubt, dass das eine (nachvollziehendes historisches Verstehen, das Herstellen von historischem Sinn) wirklich frei vom anderen (Urteilen, Bilanzen ziehen) sei. Geschichte ist und bleibt (Achtung, Binsenweisheit!) ein Konstrukt, auch die von Koenen geschriebene Geschichte ist das, davor schützt die schönste Materialschlacht nicht, und das einzige, was angesichts dessen hilfreich gewesen wäre, wäre eine transparente Offenlegung der eigenen Thesen und Materialstrukturierung gewesen. Das geschieht hier zu wenig, gerade in Anbetracht dessen, dass sich das Buch auch an Laien wendet.

Und während angesichts der Textfülle gelegentliche Wechsel zwischen einer Ich-Form und einer Wir-Form in der Darstellung (S. 1000, S. 1004) wirklich entschuldbar sind, fragt man sich als Leser*in doch, wem eigentlich die – wenigstens sehr selten, aber eben leider doch vorhandenen – Vergleiche zwischen realem Sozialismus und Nationalsozialismus weiterhelfen sollen:

„Ohne mit der Wimper zu zucken, schickten sie die Kinder und Frauen der Verurteilten, auch wenn sie Gäste in deren Häusern gewesen waren, gleich mit in die Lager oder in die Erschießungskeller, während sie sich als wahre Sozialkannibalen die Datschen mit allen Möbeln, Gemälden, dem Porzellan oder die importierten Luxuskarossen ihrer unglücklichen Genossen aneigneten.

Nichts Vergleichbares findet man in den faschistischen Bewegungen einschließlich des Nationalsozialismus, die durch einen internen Ehrenkodex, durch eine tragfähige sozialökonomische und administrative Basis sowie durch einen klar definierten Kreis von Außenfeinden recht stabil verschweißt waren – bis in ihre nibelungenhaften Untergänge hinein.“ (S. 918)

Dass solche Vergleiche (ähnliche Beispiele finden sich etwa auf S. 884 oder S. 990) weder sachgemäß, noch erhellend, sondern das Gegenteil von beidem sind, liegt auf der Hand, zumal man hier so verschweigt, das die Nationalsozialisten strukturell durchaus ähnlich mit Regimefeinden (und als solche entwarf auch der Realsozialismus die „Genossen“, von denen er sich „säuberte“) oder sog. Volksfeinden umging. Dass es nichts bringt, Regime gegeneinander aufzurechnen, ist so bekannt, dass man sich fragt, warum das Lektorat solche Anmerkungen, die für die Darstellung völlig überflüssig sind, nicht gestrichen hat. Aber immerhin: Solche Schnitzer sind selten. Geärgert haben sie mich trotzdem.

Und damit bleibt das Fazit, dass es sich, wie geschrieben, um ein sehr gründliches, sehr gut lesbares, sehr interessantes historisches Sachbuch handelt, dass sich für gerade die, die sich für die Materie interessieren und sich vielleicht noch nicht allzu kundig gemacht haben, wirklich lohnt. Da diese Buchbesprechung aber im Kontext dessen steht, dass „Die Farbe Rot“ auf der Shortlist für den Bayerischen Buchpreis 2017 steht, muss man halt auch sagen: Nein, für einen Buchpreis halte ich das Buch für viel zu wenig innovativ, und das auf allen Ebenen, leider eben auch inhaltlich.

Zumindest bestätigt Koenen in „Die Farbe Rot“ die eingangs genannten Thesen einiger Journalisten bezüglich des demokratischen Verhaltens Ostdeutscher, die sich ihrer Ansicht nach durch Schweigen dem demokratischen Diskurs verweigern und den Wunsch nach einem Kollektiv hegen, wenn er eben genau dies als Folgen des sozialistischen Regimes für die russische Bevölkerung benennt (S. 998f.). Für mich persönlich hat das Buch zumindest implizit auch die Frage angeregt, ob die Faszinationskraft des Kommunismus nicht stärker in seiner Fähigkeit wurzelt, Probleme des Kapitalismus präzise zu benennen, als in den kommunistischen Gegenvorschlägen zum Leben im Kapitalismus. Insofern war es auch für mich, trotz meiner oben breit ausgeführten Kritik, ein Gewinn, „Die Farbe Rot“ zu lesen.


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